"Oh Gott, überall Christen", seufzt die Frau in der Berliner S-Bahn. Ihre Sitznachbarin nickt beifällig. "So viel Fromme in der ganzen Stadt, das ist nur schwer zum Aushalten. Aber das geht vorüber!" Der Dialog zwischen den beiden Berlinerinnen an einem Freitagnachmittag im Berufsverkehr ist 27 Jahre her, könnte sich aber Ende Mai beim evangelischen Kirchentag in der Hauptstadt so wiederholen.
Im Frühjahr 1990 fand in West-Berlin der Katholikentag statt. Wenige Monate zuvor war die Mauer gefallen, die Stadt war dabei, sich neu zu finden und zu erfinden. West- wie Ost-Berliner genossen die neue Freiheit ohne Beschränkungen. Da war ein Katholikentag als kirchliches Großereignis eine Veranstaltung von vielen, von der man nur Notiz nahm, weil die S-Bahnen, U-Bahnen und Busse Richtung Messegelände voller waren als sonst.
Nur wenige Gottesdienstbesucher
Die Kirchen haben in Berlin einen schweren Stand. Ihre größte Herausforderung ist die ungeheuere Vielfalt der Stadt mit ihren zig Milieus und unterschiedlichen Communitys. So sind sie nur eine gesellschaftliche Stimme unter vielen. Das war zu Zeiten der Teilung so, und das ist auch heute nicht viel anders. Dem Berliner Altbischof und früheren EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber wird der Satz zugeschrieben, mit der Wiedervereinigung Berlins sei der gelebte West-Berliner Atheismus auf den verordneten in Ost-Berlin getroffen.
Immerhin knapp ein Drittel der derzeit 3,6 Millionen Einwohner Berlins gehören zwar den beiden großen Kirchen an. Dabei sind die Protestanten mit knapp 612.000 Mitgliedern klar in der Mehrheit gegenüber rund 331.400 Katholiken. Davon besuchen aber durchschnittlich nur 2,7 Prozent (16.300) der Evangelischen den Sonntagsgottesdienst. Bei den Katholiken sind es immerhin rund zehn Prozent (33.500).
Rund 11.500 Protestanten traten 2015 aus der evangelischen Landeskirche aus. Dagegen standen 553 Wiederaufnahmen, 163 Übertritte sowie 3.500 Taufen. Die Katholiken stehen nicht besser da. Sie mussten 5.800 Austritte verkraften bei 143 Wiederaufnahmen und 77 Übertritten. Dazu kamen 1.622 Taufen.
Wie wenig die Kirchen mit ihren Anliegen in der Berliner Stadtgesellschaft durchdringen, zeigte sich 2009 bei der Volksabstimmung über die Einführung eines geregelten Religionsunterrichtes an den Schulen der Hauptstadt. Nach der Einführung des Ethik-Unterrichtes als ordentliches Schulfach 2006 unter dem damaligen SPD/PDS-Senat wollte das von den Kirchen getragene Bündnis "Pro Reli" auch Religion an Berliner Schulen zum Wahlpflichtfach befördern.
Obwohl die Kirchen monatelang für das Vorhaben trommelten und die Stadt mit Plakaten pflasterten, geriet die Abstimmung im April 2009 zur Pleite. Nur knapp 30 Prozent der wahlberechtigten Berliner gingen überhaupt zur Wahlurne, und davon stimmte über die Hälfte (51 Prozent) auch noch dagegen. Dabei gab es deutlich mehr Befürworter im Westteil der Stadt und deutlich mehr Gegner im Osten. Aber letztlich hatten nur 14,2 Prozent aller Wahlberechtigten dafür gestimmt.
Aber es gibt auch andere Nachrichten: Viele Kirchengemeinden besonders in den attraktiven Innenstadt-Gebieten profitieren von dem massiven Zuzug junger Familien. In Kirchen wie der Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg sind die Gottesdienste seit einigen Jahren rappelvoll, fast jeden Sonntag gibt es mindestens eine Taufe. Die Zahl der Konfirmanden hat sich auf 60 bis 90 pro Jahrgang eingependelt.
Von einer entkirchlichten, areligiösen Stadt will der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) deshalb auch nicht sprechen. Berlin sei zwar keine eher protestantische oder eher katholische Gegend, aber mit 250 verschiedenen Religionsgemeinschaften eine multireligiöse Stadt, sagt Müller. In einer Stadt, in der fast jeder Dritte einen Migrationshintergrund hat, boomen die Weltanschauungen und Religionen, die aus den Herkunftsländern mitgebracht wurden. Es gibt nahezu alles vom Sufismus über den europäischen Schamanismus bis zur afrobrasilianischen Candomblé-Religion. Die traditionelle "Nacht der Religionen", jährliche Leistungsschau der Berliner Religionsvielfalt, zieht immer um die 10.000 Neugierige an.
Er teile auch die These einer abnehmenden Bedeutung der Kirchen nicht, sagt der Regierende Bürgermeister. Vielmehr sehe er inzwischen wieder eine gegenteilige Bewegung. Leute suchten wieder Gemeinschaft, um sich für Dinge einzusetzen.