Die Welt, in der wir heute leben, sähe ohne Martin Luther und die Reformation anders aus, darin waren sich alle Diskutanten auf der Tagung über "protestantische Ressourcen" in der evangelischen Akademie Berlin einig. Zwar ging es vor 500 Jahren im Kern um eine religiöse Erneuerung, doch sie setzte enorme Energien für Kultur, Politik, Recht, Wirtschaft und Sozialgestaltung frei. So erinnerte Stephan Leibfried vom Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen an die christlichen Wurzeln des modernen westlichen Rechts- und Sozialstaates. Auch dank des Protestantismus lernte man ein neues Denken, weg allein nur von der Familie hin zur Gemeinde, in der Gleichheit und Geschwisterlichkeit Vorrang hatten. Die Entdeckung des Individuums allein vor Gott habe letztlich auch dazu geführt, dass die Erlösungsidee nicht erst im Jenseits galt, sondern bereits in den Anspruch konkreter Sozialleistungen im Diesseits mündete.
Der Ökonom und Philosoph Birger P. Priddat von der Universität Witten/Herdecke verwies auf die bekannte These des Soziologen Max Weber, dass nämlich der moderne Kapitalismus ohne den Einfluss der Reformation kaum denkbar sei. Eine Revolution war die Begründung eines Berufs als Konkretisierung einer Berufung Gottes für alle. Allerdings sei da Martin Luther weit weniger wichtig gewesen als etwa Johannes Calvin, der noch radikaler die gottgefällige Lebensführung als permanenten Gottesdienst und Askese gepredigt habe. Der in Genf neu entstandene Typus des evangelischen Bürgers hatte im Grunde nie Feierabend. Es entwickelte sich die unternehmerisch und sorgend kalkulatorische Seele, die sich von Gott erwählt wissend ständig das Gewissen prüft. Die mittelalterliche Kriegshaftigkeit des Adels wurde endgültig überwunden. Es dominierte die Friedhaftigkeit des städtischen Bürgers, der keinen unnötigen Luxus mehr kannte, sondern ihn in Investitionen verwandelte. Daraus entstand letztlich auch das Leitbild des ehrbaren Kaufmanns, der nicht auf rücksichtslose kurzfristige Gewinnmaximierung aus ist, sondern auf ein langfristig vertrauensvolles Miteinander aller Geschäftspartner."Der Protestantismus lässt sich nicht auf Luther und Calvin reduzieren"
Allerdings ist dieses Ideal einer gottgefälligen protestantischen Ökonomie längst von der turbokapitalistischen Realität überholt worden. An den Finanzmärkten regieren heute millisekundenschnelle Computerprogramme, ohne dass noch irgendwelche Menschen mit religiös-ethischen Bedenken eingreifen könnten. Zwar geben sich viele Unternehmen nach außen hin sozial, lassen letztlich aber doch in Entwicklungs- und Schwellenländern zu unzumutbaren Bedingungen produzieren. So habe es gerade auch in deutschen Betrieben über Jahrzehnte für Manager keine Fortbildung in Sachen sozialer Gerechtigkeit gegeben. In vielen Unternehmen sei Ethik eher eine Lachnummer, die höchstens mal als Sahnehäubchen in Ökonomie-Seminaren an der Universität vorkomme, bemängelte Roland Pelikan vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt in Bayern.
Auch sei der Protestantismus nach 500 Jahren nicht mehr allein auf Luther, Calvin und andere Gründungsfiguren zu reduzieren, sagte Gerhard Wegner, Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD in Hannover. Längst gebe es eine große Vielfalt der Ausprägungen, charismatische Freikirchen, Pfingstler, Evangelikale, der rassistisch dominierte weiße Südstaaten-Protestantismus in den USA bis hin zum religiösen Sozialismus schweizerisch-süddeutscher Prägung.
Umso erstaunlicher aber sei, dass gerade die Evangelische Kirche in Deutschland diese Pluriformität des weltweiten Protestantismus nicht wahrzunehmen gedenke, ätzte der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf. So würde mit Rücksicht auf das Kirchenverständnis der katholischen Bischofskonferenz, mit der man 2017 ein gemeinsames Christusfest feiern wolle, nur von "pentekostalen Gemeinschaften" geredet. Damit werte die EKD 500 Millionen in Pfingstkirchen organisierte Christen ab, die selbstverständlich Teil des weltweiten Protestantismus seien, schimpfte Graf. Offensichtlich habe das Kirchenamt der EKD in Hannover gar nicht im Blick, dass es längst viele neue Protestantismen außerhalb Deutschlands gibt. In Brasilien etwa habe der Protestantismus eine hohe Lebendigkeit und enorme Zuwächse. Wenn es so weiter gehe, könnte das einst katholische Land in 20 Jahren evangelisch dominiert sein.
Beißende Kritik kam auch von Maren Lehmann, die Soziologische Theorie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen lehrt. So sei der heutige Protestantismus in Deutschland vor allem von einer Differenzerfahrung geprägt. Aus der Communio sanctorum, der Gemeinschaft der Heiligen, wie sie Sonntag für Sonntag im Glaubensbekenntnis beschworen wird, sei längst eine institutionalisierte Quasi-Staatskirche mit peinlicher Servilität gegenüber den Mächtigen geworden, die weniger dem Glauben als vielmehr der bürokratische Obsession anhänge. Die evangelische Kirche springe seit den 1950er Jahren gerne auf jeden Zug der Zeit auf, um ja keine Zukunft zu verpassen. Protestantismus sei aber nur dann gut, wenn er eine Gegenautorität zum mainstream und zu den Herrschenden entwickele, mahnte Lehmann.
Insofern war die Berliner Tagung über protestantische Ressourcen im besten Sinne dann doch evangelisch, weil die Freiheit eines Christenmenschen eben auch darin liegt, nicht einer Meinung zu sein.