Herr von Hirschhausen, die evangelische Kirche feiert 500 Jahre Reformation. Warum feiern Sie mit?
Eckart von Hirschhausen: Weil Martin Luther uns noch immer viel zu sagen hat: Rede verständlich, trau' dich, deine Meinung zu sagen, und stelle Dinge in Frage – diese Freiheit brauchen wir heute genauso wie damals. Außerdem war er ein cooler Typ und hatte Humor. Das Reformationsjubiläum bietet die Chance, Luther und den Geist der Freiheit neu zu entdecken, gegen Ideologien aufzubegehren und die Kraft von Gemeinschaft zu spüren.
Sie moderieren unter anderem die Sendung "Frag doch mal die Maus". Wie würden Sie den Zuschauern Martin Luther erklären?
Hirschhausen: Er hat damals gesehen, dass mit einer Botschaft, die ihm wichtig war, Schindluder getrieben wurde. Die Kirche seiner Zeit hatte die Menschen angehalten, sich die Vergebung Gottes auf abergläubische Weise zu erkaufen. Da sagte Luther: "Davon steht aber nichts in der Bibel." Das brauchte damals großen Mut. Den schätze ich an ihm. Außerdem sagte er: "Über die Dinge, die Menschen angehen, sollte man auch in der Sprache reden, die sie verstehen." Er hat das Neue Testament deshalb ins Deutsche übersetzt. Die religiöse Oberschicht hat dagegen auf Latein gepredigt, was sonst niemand verstanden hat. Die Menschen durften "Ja und Amen" sagen, mehr nicht.
"Reformation" heißt so viel wie "Erneuerung". Wo wäre heute Reformation nötig?
Hirschhausen: Wir bräuchten sie heute im Gesundheitswesen, im Umgang mit kranken, alten und behinderten Menschen. Ich habe Medizin an der "Charité" gelernt. Darin steckt nicht Shareholder, sondern "Caritas" – Nächstenliebe. Die Grundlage des Krankenhauses, des "Hospitals", war nicht Kommerz, sondern Gastfreundschaft. Kranke bringen nach ökonomischen Kriterien keinen Mehrwert, verursachen vielmehr Kosten, weil man sich um sie kümmern muss. Dagegen steht der grundchristliche Gedanke, dass jeder Mensch einen Wert hat, der nicht von seiner Leistungsfähigkeit abhängt. Den hat Luther betont und der ist auch mir ganz wichtig. Hinzu kommt: Jeder Patient ist ein leidender Menschen – und die erste Frage sollte immer noch sein: Wie kann ich ihm helfen? Und nicht: Wie mache ich mit seinem Leid möglichst viel Rendite? Bei vielen Dingen, die heute im Gesundheitswesen passieren, würde Luther auf die Barrikaden gehen.
Was wünschen Sie sich zum Reformationsjubiläum?
Hirschhausen: Eine breite Debatte darüber, nach welchen Werten wir künftig leben wollen. Da hat das Christentum in Europa wertvolle Vorarbeit geleistet. Ich finde: Die große Kraft unserer Kultur steckt in denen, die wir gering schätzen. "Was ihr einem von denen getan habt, das habt ihr mir getan" – sagt Jesus. Und ich wünsche mir auch, dass Menschen die Kraft von Gemeinschaft wiederentdecken. Es gibt dieses tolle Bibelwort: "Wo zwei oder drei versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." Deshalb funktionieren Gruppentherapien, deshalb gehen Menschen in die Kirche. Und deshalb mache ich so gern Live-Kabarett – meine Form der "Predigt". Samstagabend statt Sonntagvormittag. Aber über das Wort die Menschen zu erreichen, daran hat Luther ja auch geglaubt.
Ist Martin Luther für Sie ein Vorbild?
Hirschhausen: Eindeutig. Er hat vorgelebt, sich mit den Verhältnissen und der herrschenden Meinung nicht zu arrangieren. Das ist Zeichen einer großen inneren Freiheit. Luther hat sie "Freiheit eines Christenmenschen" genannt. Diese Freiheit schreibt er uns 500 Jahre später immer noch ins Gebetbuch. Sie macht immun gegen Ideologien wie den Perfektionismus. Der fordert: "Du musst gesund sein, du musst toll aussehen, du musst der Beste sein und darfst nicht alt werden." Diese Ideologie muss man hinterfragen, dabei hilft Luther.
Hilft Ihnen Luther auch auf der Bühne?
Hirschhausen: Er inspiriert mich in meiner Arbeit. Luther war ein großer Entertainer. Seine Rhetorik war brillant, er hatte Humor – und hat bei der Übersetzung des Neuen Testaments Sprachbilder entwickelt, die bis heute gelten. Es gibt da einen Witz, wo sich zwei Säue unterhalten im Stall: "Was gibt es denn heute zum Mittag?" – "Ach, schon wieder Perlen!" Hätte man von Luther nicht dieses Bild "Perlen vor die Säue werfen" im Hinterkopf, würde man gar nicht verstehen, was daran lustig ist. Ich bedaure, dass Luther nicht bei youtube irgendwo live zu finden ist. Damals gab es leider noch kein Bewegtbild. Heute wäre es ein viraler Hit.
Nun gibt es aber auch Themen, bei denen manche Menschen keinen Spaß verstehen. Die eigene Religion etwa.
Hirschhausen: Wenn Menschen bei religiösen oder anderen Themen keinen Spaß verstehen, ist immer Gefahr im Verzug. Dann ist der Weg nicht mehr weit, bis sie bereit sind, Andersdenkende zu verfolgen. Wir haben gedacht, dass sich die Gesellschaften in den letzten Jahrhunderten kontinuierlich weiterentwickeln in Richtung Freiheit, in Richtung Demokratie und dorthin, dass ich sage: Ja, ich glaube das, aber ich akzeptiere auch, dass du etwas anderes glaubt. All dies ist leider gerade dabei, den Bach 'runter zu gehen. Viele Menschen erleben Freiheit als Bedrohung. Deswegen ist hochaktuell, wenn Luther mahnt: Denkt eigenständig, hinterfragt kritisch jeden, der behauptet, er hätte die alleinige Wahrheit. Und ich füge hinzu: Erzählt euch Witze.
Witze gelten als oberflächlich.
Hirschhausen: Ein weit verbreitetes Missverständnis. Einer meiner Lieblingswitze lautet: Ein Fallschirmspringer springt aus dem Flugzeug, zieht die erste Reißleine – nichts passiert. Er zieht die zweite Reißleine – wieder nichts. Auch der Rettungsschirm versagt und der Mann denkt, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Da sieht er plötzlich, dass ihm vom Erdboden her jemand entgegenfliegt, und er denkt: Ist das meine Rettung? Er ruft: "Reparieren Sie Fallschirme?" – Antwortet der andere: "Nein, nur Gasleitungen." – Humor bedeutet wie in diesem Witz ein tiefes Einverständnis in die Absurdität des Daseins: Wir verstehen ganz viele Sachen nicht und werden sie auch nie verstehen. Wir kommen aus Staub, wir werden zu Staub. Viele Menschen meinen deswegen ja auch, es muss im Leben darum gehen, viel Staub aufzuwirbeln. Aber darum geht es nicht.
Worum geht es denn?
Hirschhausen: Es geht darum zu schauen: Was ist da in mir, was gelebt werden möchte? Was ist meine Wahrheit, die vielleicht noch über mich hinausweist? Martin Luther hat das so bezeichnet, dass man sich öffnet, eine Liebe empfängt und eine Liebe weitergibt. In der Bibel gibt es diesen schönen Satz: "Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein." Luther sagt auch: "Du bist okay, wie du bist." Wie viele Menschen fühlen sich heute schlecht und ausgebrannt und depressiv, weil sie denken, sie müssten anders sein. Doch andere gibt es doch schon genug. Alle müssen irgendwie schöner sein, und sie müssen mehr Sport machen, sie müssen etwas anderes essen – und dann müssen sie noch alle Karriere machen und alle Nummer eins werden. Diese Ideologien unseres Turbokapitalismus' machen alle Menschen fertig. Und dann kommt einer und sagt: "Darum geht es gar nicht!" Das hat sich Luther natürlich nicht ausgedacht – das hat er in der Bibel gefunden, weil es der Kern der Botschaft Jesu' war. Alle Menschen sehnen sich nach einer Liebe, die einen annimmt und die bedingungslos ist. Diese Liebe kann man nicht kaufen – auch nicht, indem man der Mega-Gutmensch ist. Solche Pseudolösungen hat Luther aufgezeigt und gesagt: "Du kannst dich noch so sehr anstrengen. Letztlich kannst du dir Gottes Liebe weder erkaufen noch verdienen." Das hat eine unglaubliche therapeutische Kraft – und ich würde mir wünschen, dass viele Menschen heute davon hören.
Luther hat viele Sprüche hinterlassen: Wenn du ein Kind siehst, hast du Gott auf frischer Tat ertappt. Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz. Wo du dein Herz dran hängst, das ist dein Gott. Welchen finden Sie gut?
Hirschhausen: Den ersten Spruch. Ich denke dabei an meine Stiftung "Humor hilft heilen". Wir engagieren Clowns oder schulen Pflegekräfte so, dass sie Kinder im Krankenhaus für einen Moment in eine andere Welt entführen. Das bedeutet auch, Gott auf frischer Tat zu ertappen. Denn das, was da entsteht, hat eine spirituelle Qualität: Die Angst verschwindet durchs Lachen, Vertrauen und Hoffnung wachsen. Das versteht man vielleicht eher, wenn man sich an die Tradition im Christentum erinnert, zu Ostern über die Friedhöfe zu gehen und zu lachen – das "Osterlachen". Warum? Weil wir dem Tod ins Gesicht lachen. Weil wir in jeder Situation die Wahl haben, uns zu ihr zu verhalten. Auch dafür steht diese authentische Kraft von Luther, der sagt: "Nichts kann mich trennen von einer Liebe Gottes."