In der Geschichte des Terrorismus markieren die Anschläge von New York und Washington vom 11. September 2001 eine Zäsur: Der Westen wurde seither mehr und mehr zur Zielscheibe islamistischen Terrors. Auch in Europa wächst die Angst - nicht nur vor Terroristen, sondern auch vor dem Islam als Religion. "Der Islam ist in weiten Teilen der öffentlichen Wahrnehmung im Westen das, was früher der Kommunismus war: ein gefährlicher, unberechenbarer, auf die Weltherrschaft zielender Gegner," sagt der Islamwissenschaftler und Buchautor Michael Lüders.
Vor diesem Hintergrund wird der Ruf nach Reformen im Sinne eines aufgeklärten Islam immer lauter. Eine Blaupause für die theologische Erneuerung der muslimischen Religion könnte die Reformation vor 500 Jahren sein, die mit ihrem Freiheitsbegriff das Christentum entscheidend verändert habe, erklärten Wissenschaftler vor einigen Tagen auf einer Fachtagung in Düsseldorf.
Dialog mit Gott
Die meisten Teilnehmer zeigten sich überzeugt, dass der Protestantismus, begriffen als die von Martin Luther ausgehende "Befreiung des gläubigen Subjekts vom Dogmatismus", durchaus ein Vorbild für eine Islamreform sein kann. "Religion muss ein Prinzip, sich zu individualisieren, in sich haben", sagt etwa der Historiker und Kulturwissenschaftler Jörn Rüsen. "Religion ohne Humanismus ist dagegen gefährlich."
Doch wie reformfähig ist der Islam? Der liberale Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide bescheinigt der 1.400 Jahre alten Offenbarungsreligion durchaus reformerisches Potenzial, weil eine Auseinandersetzung der Gläubigen mit den Inhalten des Korans im Text angelegt sei. Beim Studieren der heiligen Schrift der Muslime gehe es nicht um Handlungsvorschriften, sondern um Dialog: "Der Koran ist eine lebendige Kommunikation von Gott mit den Menschen", betont der Leiter des Zentrums für islamische Theologie der Universität Münster.
Beim Verhältnis zwischen Gott und den Menschen im Koran gehe es um Liebe, nicht um Gehorsam, sagt Khorchide. "Liebe aber funktioniert nur in Freiheit." Deshalb lasse sich die Ideologie des islamischen Fundamentalismus auch nicht aus dem Koran ableiten. Zudem werde Gott im Koran als die Wahrheit benannt. Kein Muslim dürfe deshalb von sich behaupten, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, weil er sich damit "im Besitz Gottes" befände.
Eine Reformation gegen den Fundamentalismus
Dennoch berufen sich Islamisten auf den Namen Allahs, wenn sie andere töten und sich selbst in die Luft jagen. Jede Abweichung von ihrer eigenen Koranauslegung werten sie als Abkehr vom richtigen Glauben. Die derzeitige Vorrangstellung des Salafismus, der sich an den Gesellschafts- und Religionsvorstellungen der islamischen Frühgeschichte orientiert, habe zu einer "aggressiven Intoleranz gegenüber innerislamischer Vielfalt" geführt, beklagt Marwan Abou Taam vom liberalen Muslimischen Forum Deutschland: "Eine reformatorische Bewegung ähnlich wie vor 500 Jahren im Christentum könnte dieser Tendenz entgegenwirken."
Islamische Reformer gab es nach den Worten des Marburger Islamforschers Assem Hefny durchaus. So habe der Ägypter Muhammad Abduh (1849-1905) die Reformation in Europa rezipiert und versucht, die Moderne mit dem Islam zu versöhnen. Durch das Aufkommen fundamentalistischer Strömungen im 20. Jahrhundert seien derlei Bemühungen jedoch zum Stillstand gekommen.
Kritiker sehen neben dem Extremismus noch weitere Probleme. So schrieb der türkischstämmige Mathematiker und Physiker Ufuk Özbe kürzlich in einer Reihe von Publikationen, der Koran verstehe sich als Wiedergabe des direkten und wörtlichen Redens Gottes. Muslimische Theologen hätten daher "nicht die gleichen Spielräume wie die christlichen Exegeten".
Für den Islamwissenschaftler und Politologen Muhammad Murtaza haben heute die falschen Leute die Deutungshoheit über den Koran, nämlich "Ahnungslose und Dummköpfe". Der Salafistenprediger Pierre Vogel maße sich an, in 30 Sekunden zu erklären, wofür der Prophet Mohammed 13 Jahre in Mekka gebraucht habe.
Muslime müssen selbst den Islam reformieren
Nach Ansicht Khorchides wird islamischer Fundamentalismus auch durch eine "Identitätsverunsicherung" in der islamischen Welt genährt. Gerade wenn der Westen Reformen einfordere, fühlten sich die Muslime in ihrer Identität bedrängt. Die Sogkraft des Westens gehe für sie mit einem Gefühl politischer Ohnmacht und eigener Perspektivlosigkeit einher, in der auch die frühere Demütigung durch den Kolonialismus mitschwinge.
Eine einfache Übertragung reformatorischer Ansätze aus dem christlichen Kontext auf den Islam sei deshalb nicht zielführend, sagt der Islambeauftragte der Evangelischen Kirche im Rheinland, Rafael Nikodemus. Dies entspreche auch nicht den Erwartungen der meisten Muslime. Veränderungen im Islam müssten allein von den Muslimen selbst ausgehen.
Der "Schlüssel für eine Reformation des Islam" ist daher für Aladdin Sarhan vom Muslimischen Forum Deutschland eine humanistisch angelegte Bildung: Gläubige müssten befähigt werden, die Vielfalt an Deutungen ihrer Religion zu erkennen und für sich selbst die richtige Entscheidung zu treffen.