Eigentlich schlafe ich nie richtig durch und tief schon gar nicht während dieser Nächte in Bereitschaft an meinem Arbeitsplatz. Und in diesem hässlichen Dienstzimmer im zweiten Stock der Villa schon gar nicht.
Morgen früh muss ich um sechs Uhr aufwachen, Küchenschlüssel und Kaffeepaket an den "Frühstücksbeauftragten" aushändigen, diesmal ein junger Mann von 24 Jahren. Ein Teil unserer Gruppe wird mit meinem Kollegen nach Mirabilandia fahren, in den Vergnügungspark in der Nähe von Ravenna. Der Rest, die Verweigerer und die wegen schlechten Verhaltens kurzfristig Blockierten, bleibt mit mir zuhause und kann ein wenig länger schlafen.
Mitten in der Nacht wache ich auf, was ist los, ist es schon Zeit? Müssen die immer so viel Krach machen!
Da stimmt etwas nicht, mein Bett, der Boden unter meinen Füßen bewegt sich, die Möbel schwanken, ein furchtbar dumpfes Geräusch im Chaos: Erdbeben - ich begreife. Es ist dunkel, ich kann nur die Umrisse der Gegenstände in Bewegung wahrnehmen, wo ist die Horizontale, an was kann ich mich jetzt orientieren? Hört das denn gar nicht mehr auf? Schnell zur Tür, die "Jungs" kommen aus ihren Zimmern: Erdbeben! Hilfe, was machen wir?
Dann hört das Wackeln und Poltern auf, die Uhr zeigt 3:36. Ich fege in alle Zimmer, runter, runter ins Erdgeschoss, das war ein Erdbeben, ist schon vorbei, ganz ruhig, gehen wir runter, treffen uns im Fernsehzimmer beim Ausgang. Ein paar haben schon ihr Smartphone in der Hand und suchen Informationen auf RaiNews 24ore. L., unserer ältester Bewohner, will nichts von allem wissen, dreht sich nur im Bett herum: Erdbeben? Ist mir egal, ich will schlafen. Am Eingang zu seinem Bad liegen die Scherben des großen Spiegels.
Schwindel, keine Luft, Angst
Zuerst einmal raus ins Freie auf die Aussichtsterrasse der Villa mit Blick auf den Lago Trasimeno. Alle rauchen, reden, zittern in der nächtlichen Kälte, suchen ihre Kontakte auf Whatsapp. Mist, ich habe seit Jahren mit Rauchen aufgehört, hab nicht mal ein Bonbon in der Tasche. Dann sitzen und liegen wir auf den Sofas im Fernsehzimmer, nach einer Stunde kommt ein zweites Beben, das wir im Erdgeschoss kaum wahrnehmen.
E. bekommt fast keine Luft, er spürt Druck auf der Brust, erzählt, dass er als Kind das schwere Erdbeben von Irpinia bei Neapel erlebt hat, auf dem Arm seiner Mutter. Die Angst kommt jetzt erst mit der Erinnerung. G. fühlt noch immer Schwindel. Die sekundenlange Orientierungslosigkeit hat ihn, der schon als Jugendlicher und dann viele Jahre als Erwachsener seine äußere und innere Sicherheit an einem Ort mit vier Wänden und Gitterstäben fand, destabilisiert.
S. friert, verschwindet fast unter seiner Decke. Er ist aus Gambia geflohen, über Senegal, Mali, Niger nach Libyen, dann mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer bis Sizilien, hat die gleichen Probleme wie unsere Jungs und noch eines mehr: Er ist allein. Er ist schwarz. Der Anfang bei uns war nicht leicht: andere Sprache, anderes Essen, andere Kultur, immer allein. Am Anfang dachte er, die Italiener wollten ihn ganz langsam umbringen. Ihn, der aus einer Großstadt in Gambia kam, in diese Villa auf dem Hügel zu verpflanzen, nur Landschaft und das Geschrei der Zikaden, lauter Fremde, alle weiß, alle schwierig... S. wird die folgenden Nächte nicht mehr in seinem Zimmer im zweiten Stock schlafen, er kampiert auf einem der Sofas.
Wir reden und trinken Kamillentee, essen Kekse, nach einer weiteren Stunde ein drittes leichtes Beben. Der "Frühstücksbeauftragte" beginnt mit dem Kaffekochen. Während sich eine Gruppe auf die Abfahrt nach Ravenna vorbereitet, gehen die anderen schlafen, auf den Sofas oder zurück ins Bett.
Erste Anrufe aus Deutschland: "Bei euch alles ok?" In den Morgennachrichten sehen wir Bilder von zwei Dörfern im Appenin, völlig zerstört. Nach drei Tagen Bergungsarbeiten zieht der Katastrophenschutz Bilanz: 279 Menschen tot, 238 aus den Trümmern geborgen, am Leben.
Erst nach Tagen, beim Anblick dieser Bilder, kann ich weinen.