Bei Ebbe waten Spaziergänger barfuß durchs Watt, manchmal durch kniehohe Wasserströme. Einen Kilometer ist Mont Saint-Michel mit der riesigen Abtei vom französischen Festland entfernt. Steigt die Flut, wird der Klosterberg zu einer Insel, umgeben vom salzigen Meerwasser. Die Franzosen nennen den Komplex auch "La Merveille": das Wunder.
Wie um neue Besucher anzuziehen, glänzt in diesem Sommer der frisch renovierte Erzengel Michael golden auf dem Dach der riesigen Abtei. "Im Jahr 708 erschien der Erzengel in der Nacht dem Bischof Aubert", erzählt Touristenführer Dominique Gilbert die Gründungslegende: "Er beauftragte ihn mit dem Bau einer Kirche auf der Felseninsel, aber der Bischof glaubte zu träumen - bis der Engel ihm mit dem Finger ein Loch in den Schädel bohrte!"
Paradebeispiel für normannische Architektur
Der Schädel ist in der Kirche in der gegenüberliegenden Gemeinde Avranches in der Normandie zu besichtigen. Der Bischof errichtete ein Heiligtum zu Ehren des Heiligen Michael, später wurde es zu Abtei und Kloster ausgebaut.
Heute ist Mont Saint-Michel ein Paradebeispiel für normannische Architektur - und dank der starken Gezeiten Naturschauspiel. Das Kloster ragt 157,1 Meter aus dem Meer hinaus. Seit 1979 sind Berg und Bucht Weltkulturerbe der Unesco. Jedes Jahr kommen mehr als 2,5 Millionen Besucher, vor allem Japaner. Seit den Terroranschlägen in Frankreich ist ihre Zahl allerdings zurückgegangen.
Im Kloster leben sieben Nonnen und vier Mönche der Gemeinschaften von Jerusalem, die in den 70er Jahren auf Initiative des damaligen Pariser Erzbischofs Kardinal Marty gegründet wurden. Sie kümmern sich um Buchhaltung, Essenszubereitung, spirituelle Ausbildung und um Besucher.
Aber es gibt auch eine Ärztin unter den Nonnen, die jeden Tag auf dem Festland Patienten behandelt. Und die 55-jährige Schwester Nathanaël, die 2008 auf den Mont Saint-Michel kam, war im bürgerlichen Leben Finanzmarkt-Händlerin: "Ich kaufte den ganzen Tag Kaffee und hatte in jeder Hand ein Telefon."
"Wir leben nicht in einem Elfenbeinturm", betont Bruder François-Marie, der Verantwortliche der Gemeinschaft: "Wir sind in Kontakt mit den Einwohnern und den Besuchern." Die Gemeinde bietet auch spirituelle Besinnungstage im Kloster an: Fünf Tage lang können Gäste das Leben der Nonnen und Mönche teilen.
Ihr Reich ist einer der größten erhaltenen Baukomplexe des europäischen Mittelalters. Dazu gehören auch ein Klostergarten und ein Almosensaal, in dem über Jahrhunderte Pilger und Bettler empfangen wurden.
Zeitungen und Magazine statt Radio und TV
Der Tag beginnt morgens um halb sechs, wenn noch völlige Ruhe herrscht, mit einer Stunde Gebet. Ein Mönch bringt die Kirchenglocke zum Läuten, indem er an einem langen Seil zieht. Die Schwestern und Brüder sind ganz in Weiß gekleidet. Mit einer Kutte um die Schultern knien sie nieder zum Gebet in der Abteikathedrale oder im Winter auch in einer Krypta, wo es wärmer ist.
Die erste Messe findet um sieben Uhr morgens statt, mit wundervollen Gesängen, für die die Gemeinschaft von Jerusalem bekannt ist. Die Brüder und Schwestern haben weder Radio noch Fernsehen, aber sie halten sich dank einer Presseschau aus Zeitungen und Magazinen auf dem Laufenden.
135 Jahre lang hatte ein Damm mit einer Straße die Insel gezeitenunabhängig mit der Küste verbunden. Weil er aber die natürlichen Meeresströmungen unterbrach, drohte die Bucht zu versanden. Mit immensem Aufwand wurde der Damm deshalb durch einen Stahlsteg ersetzt, der bei Flut Wasser durchfließen lässt. Seit 2014 können Touristen auf der neuen Stelzenbrücke nun zu Fuß oder per Bus zum Mont Saint-Michel gelangen.
"Omelette der Mutter Poulard"
Sie kommen nicht nur wegen des Klosters, sondern auch wegen einer Spezialität: In ganz Frankreich berühmt ist das "Omelette der Mutter Poulard" auf Mont Saint-Michel. Dazu gehören "gute Eier, gute Butter, ein guter Schneebesen", mehr verrät "Omelettière" Christine Le Retrait nicht.
Die Eier werden nach einem bestimmten Rhythmus geschlagen, der seit Generationen weitergegeben wird. Seit 27 Jahren schlägt sie die Eier - etwa fünf Minuten lang - stellt sie dann in einer Pfanne auf das Kaminholzfeuer, wo sie nach weiteren fünf Minuten zu sämig-cremigen Omelettes backen.
Namenspatronin "Mutter Poulard" kam als Annette Boutiaut 1872 auf die Insel - denn es existiert auch ein kleiner Ort mit heute rund 40 Einwohnern auf dem Klosterberg. Sie heiratete den Bäckersohn Victor Poulard, 1888 machte das Paar eine Herberge auf. Auf ihrem Grab zu Füßen der Abtei steht: "Möge Gott sie empfangen wie sie ihre Gäste empfingen".
Die Erben des Ehepaares verkauften die Herberge 1986 an den früheren Bürgermeister Eric Vannier. "La Mère Poulard" besitzt heute sechs Hotels und acht Restaurants auf dem Mont Saint-Michel, mehrere Läden in Paris und Westfrankreich sowie eine Bäckerei, die Kekse der Mutter Poulard in 70 Länder exportiert.