Die demokratischen Strukturen würden von immer weniger Menschen aktiv unterstützt und mitgetragen, sagte Kurschus am Montagabend beim Jahresempfang der Evangelischen Kirche von Westfalen in Schwerte. Einzelne Politiker und Parteien feierten Wahlerfolge, indem sie eine verbreitete Unzufriedenheit nutzten und "an ein tiefsitzendes Misstrauen gegen 'die da oben' und gegen 'das System' als solches" appellierten.
Ohne Namen zu nennen, verwies die stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) auf die Landtagswahlen im März, bei denen die rechtspopulistische AfD in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt zweistellige Ergebnisse erzielt hatte, und auf die annullierte Präsidentschaftswahl in Österreich - dort war der Kandidat der rechtspopulistischen FPÖ, Norbert Hofer, dem Grünen-nahen Alexander Van der Bellen nur hauchdünn unterlegen. Die Wahl muss wegen Regelverstößen wiederholt werden.
Demokratie sei auf freie Meinungsbildung aller ausgerichtet und lebe von der Suche nach Mehrheiten und Kompromissen, betonte Kurschus. Sie sei zwar unvollkommen und anfällig für Fehler, aber "tatsächlich alternativlos" und für die Selbstorganisation und Steuerung des gesamten Gemeinwesens breit verankert, auch in den Kirchen. Demokratie dürfe daher kein Auslaufmodell sein, forderte die leitende Theologin der viertgrößten deutschen Landeskirche vor zahlreichen Vertretern von Politik, Kirche und Gesellschaft: Diese Staats- und Organisationsform brauche und verdiene den Respekt, das Vertrauen, die Wachsamkeit und die Fairness des Gemeinwesens und des Einzelnen.
Als Problem nannte Kurschus, dass die wirtschaftlichen, rechtlichen, kulturellen und religiösen Verhältnisse komplexer und vielfältiger geworden seien. Dennoch müsse es gelingen, "in unseren Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen all diejenigen angemessen zu berücksichtigen, die nicht am demokratischen Prozess teilnehmen" - sei es, weil sie nicht wollen oder weil sie nicht abstimmen dürfen. Als Beispiel nannte die Präses, dass die überwiegend pro-europäisch eingestellten Jugendlichen in Großbritannien nicht über den Brexit abstimmen konnten, obwohl sie die Folgen des Votums tragen müssten. In den alternden westlichen Gesellschaften seien Kinder und Jugendliche künftig dauerhaft in der Minderheit.