Sie waren zwei Wochen mit Sea-Watch 2 auf hoher See unterwegs und haben die Rettungsaktion von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer begleiten können. Wie vielen Menschen konnte in diesem Zeitraum geholfen werden?
Andreas Kuno Richter: Ich kann das zum jetzigen Zeitpunkt nicht exakt sagen, über 600 Menschen haben wohl allein durch den Einsatz der Sea-Watch-Crew gerettet werden können. Die Zahlen insgesamt in dieser Woche sind sehr hoch. Einige Zeitungen berichten von über 13.000 Menschen. Aber ich möchte nicht von Zahlen sprechen ...
Wie läuft eine Rettungsaktion ab?
Richter: Jede Rettungsaktion ist natürlich anders. Aber die Sea-Watch-Organisation bereitet jede neue Crew auf die Rettungseinsätze sehr gut vor. Auf der Meerwache im Suchgebiet, hinter 24-Seemeilen-Zone, also im internationalen Gewässer vor der libyschen Küste, fährt das Schiff langsam. Viele Leute mit Ferngläsern halten Ausschau. Zeitgleich konzentriert sich das jeweilige Wachteam auf der Brück auf die Seenotrufe. Wird ein Schlauchboot gesichtet, oder ein Notruf geht ein, dann wird ein Rettungsboot zu Wasser gelassen, Ärzte gehen an Bord, das Boot mit den Flüchtlingen wird kontaktiert. Alles sehr ruhig, um Panik zu vermeiden. Die Ärzte fragen nach Verwundeten. Dann werden von der Sea-Watch, die etwas Abstand noch hält, Rettungswesten gebracht.
Danach gibt es zwei Optionen. Das Rettungsboot bleibt so lange am Schlauchboot der Flüchtlinge, bis ein großes Schiff die Notleidenden aufnimmt, oder die Sea-Watch bring die Menschen kurzzeitig selbst an Bord. So kann auch die weitere Suche fortgesetzt werden. Normalerweise bleibt das Beiboot nahe am Schlauchboot der Flüchtlinge und die Sea-Watch 2 in Sichtweite, um den Geretteten ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Eigentlich wurde von Sea-Watch festgelegt, keine Flüchtlinge an Bord zu nehmen, da das Boot nicht wirklich dafür ausgerüstet ist und auch dem möglichen Vorwurf des Schleppertums zu entgehen. Da es an jenem Tag jedoch mehrere Notrufe gab, wurde gemeinsam entschieden, die Flüchtlinge aufzunehmen und später an ein anderes Boot zu übergeben.
Was ist die Voraussetzung für das Gelingen einer Rettung?
Richter: Man hat einen Plan, man ist optimal vorbereitet, die Motivation zu retten ist sowieso bei jedem Crew-Mitglied da, man muss über sich hinauswachsen, man benötigt Seeleute, Ärzte, Rettungsmittel und eine Menge mehr.
Wenn das Sea-Watch-Rettungsboot sich annähert an das Flüchtlingsboot, gibt es in der Tat ein konkretes Szenarium. Der Sea-Watch-Arzt sucht einen Ansprechpartner. Unbedingt wird Ruhe erbeten. Oft haben die in Seenot geratenen Angst. Also erklärt der Arzt, woher er kommt und was die deutsche private Freiwilligen-Organisation macht. Dann wird der Ablauf erläutert: medizinische Versorgung bei Bedarf, Westen ausgeben, Wasser reichen und gegebenenfalls an Bord kurz übernehmen. Alles total seemännisch professionell.
In welchem Zustand waren die Geretteten? Und welche Möglichkeiten, Ressourcen und Experten gibt es an Board für eine erste Hilfe?
Richter: Die Geretteten waren ausnahmslos erschöpft, egal wie lange sie auf diesen fragilen Todesschlauchbooten gesessen haben. Viele waren verletzt, weil die Schlepper die Gummiboote mit Brettern verstärkt und lange Schrauben am Boden schlimmste Verletzungen verursacht haben. Es gab einen eigenen Sanitätsraum mit wichtiger medizinischer Ausrüstung für eine wirksame Erstversorgung. Unter der Anleitung professioneller Ärzte konnte optimale erste Hilfe geleistet werden. Zusätzlich wurde Trinkwasser verteilt und nach mehreren Stunden an Bord hat unser französischer Koch tatsächlich Reis mit Gemüse für alle gekocht.
Wie gehen die Helfer und wie gehen Sie als journalistische Beobachter damit um, dass nicht alle gerettet werden, dass viele sterben?
Richter: Wir sind am Dienstag erst aus Malta abgeflogen. Die Verabschiedung von unserer Crew, mit uns insgesamt 13 Leute, war sehr emotional. Wir haben phantastische Menschen kennenlernen dürfen. Es gab ein Gruppengespräch, das ist in diesem Fall von der Notfallseelsorge der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern moderiert worden. Dort ging es um die guten und um die schlimmen Momente der Reise. Dass es schlimm ist, nicht alle Menschen retten zu können, versteht sich von selbst. Ich kann und will nicht sagen, wie die Helfer damit umgehen. Ich sehe die vielen, vielen guten Augenblicke, die Kinder, die wir an Bord nehmen konnten – die Kleinen, die aber auch gar nichts dafür können, in solch lebensbedrohliche Situation geraten zu müssen.
Welche Rolle spielen Religion und Glaube auf Seiten der Retter und Geretteten?
Richter: Diese Frage kann ich nicht beantworten, weil ich es nicht weiss. Manche Flüchtlinge, die an Bord gekommen sind, haben selbstverständlich gebetet. Und ihrem Gott gedankt.
Christian Büttner: Ich denke, dass wir alle auf dem Boot in jenen Momenten nur eines waren: Menschen!
Was macht diese Erfahrung auf See mit den Helfern?
Richter: Das kann ich pauschal nicht beantworten. Ich zitiere einen Musiktherapeuten, jenen Mann, der das tote Baby im Arm gehalten hat. Er sagte uns abends in der Messe in einem Essraum an Bord eines Schiffes: "Ab heute bin ich kein Europäer mehr!" Das Foto mit dem ertrunkenen Säugling hat Christian gemacht. Er war an Bord des Rettungsbootes, das geholfen hat, Leichen zu markieren. Christian war auch bei diesem Einsatz zu 90 Prozent Helfer und nicht Berichterstatter. Übrigens, die Sea-Watch-Crew sagt nicht "Helfer", sondern "Aktivist".
Was hat Sie als journalistische Beobachter am meisten bewegt?
Richter: Hier hätte ich viele Antworten. Nur eine: Christian und ich, wir haben nicht nur gefilmt sondern bei allen notwendigen Arbeiten geholfen: vom Aussetzen der Rettungsboote, bei der Brücken- und Maschinenwache, dem Ausguck, dem Geschirrspülen und so weiter : Einmal sagte dann Tillmann, der erste Maschinist zu mir: "Kuno, ihr seid zwar unsere Journalisten, aber ihr seid auch zu hundert Prozent Teil der Crew." Das hat mich schon sehr bewegt.
Büttner: Mich bewegte am meisten, dass es uns gelungen ist, ein wirklich sinnvoller Teil der Crew zu werden und in entscheidenden Momenten nicht im Weg zu stehen, sondern etwas zu bewirken. Ich kann bis jetzt noch nicht wirklich begreifen, dass ich persönlich dabei war und geholfen habe, drei Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Das Eingreifen und die letztlich gemeinsame Entscheidung von Welf, dem Fahrer unseres Speedbootes auf dem ich gerade eher zufällig saß, und mir, vorauszufahren, hat diesen drei Menschen das Leben gerettet.
Gibt es Dinge, die aus Ihrer Sicht in der Öffentlichkeit bislang nicht oder falsch zur Sprache gekommen sind?
Büttner: Es wurde in der vergangenen Woche darüber öffentlich diskutiert, dass Sea-Watch irgendwann falsche Zahlen veröffentlicht hatte. Ist es nicht egal, ob es 5.000 Menschen oder nur ein einziger Mensch ist, der allein Aufgrund einer vagen Hoffnung auf ein besseres Leben sein eigenes aufs Spiel setzt und verliert?
Wie geht es weiter: Wie vermitteln Sie das Gesehene und Erlebte? Und was kann die Öffentlichkeit tun, um zu helfen?
Richter: Wir werden in den nächsten Wochen das gedrehte Filmmaterial in Ruhe sichten und einen Film gestalten. Es ist also noch zu früh, um sicher zu sagen: so und so erzählen wir das Erlebte. Die Öffentlichkeit hat sich ja bereits geäußert zu unserer Arbeit auf der Facebook-Seite von Sea-Watch. Es gibt unzählige Kommentare und immer wieder die Bereitschaft von Menschen, selbst einen 14-tägigen Törn, also eine Reise auf See, mitzumachen und Leute, die Lesungen veranstalten, um Geld zu sammeln. Nicht jeder kann natürlich an Bord – da haben die Organisatoren von Sea-Watch Erfahrungen bei der Auswahl. Allerdings kann jeder spenden, damit weiterhin das Boot ins Suchgebiet auslaufen kann, ausgerüstet mit den Rettungsmitteln, mit Medikamenten, mit Proviant und so weiter.