Die ganze Nacht über hatten behinderte Menschen am Spree-Ufer beim Bundestag ausgeharrt und protestiert, weil ihnen das Gesetz zur Barrierefreiheit nicht weit genug geht. Als die Abgeordneten es am Donnerstag in Berlin mit den Stimmen der Koalition verabschiedeten, saßen einige von ihnen auf der Zuschauertribüne und konnten verfolgen, wie Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ihr Gesetz gegen "Fundamentalkritik" verteidigte. Es sei "nicht alles Mist", nur weil nicht alles erreicht worden sei, sagte Nahles.
Kritik von Aktivisten
Aber sie gestand auch offen ein, dass der Novelle des Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) ein entscheidender Punkt fehlt: Barrierefreiheit wird nur den Bundesbehörden vorgeschrieben. In der Privatwirtschaft oder im kulturellen Leben bleiben behinderte Menschen darauf angewiesen, dass ein Kinobetreiber oder ein Arzt freiwillig eine Rampe aufstellt oder seiner Internetseite eine Tonspur hinzufügt, damit sich auch ein Blinder informieren kann.
Der Aktivist Raúl Krauthausen gehörte am Tag der Verabschiedung der BGG-Novelle zu den Fundamentalkritikern. Er sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), das einzig Positive an den Gesetzesvorhaben der Bundesregierung sei, dass überhaupt über die Lage behinderter Menschen debattiert werde. Nahles will in diesem Jahr auch das Bundesteilhabegesetz durch den Bundestag bringen, das die finanziellen Hilfen für behinderte Menschen neu regelt. Krauthausen kritisierte beide Gesetze als "richtigen Murks". Zwar würden im Vorfeld die Selbsthilfeverbände und Interessenvertretungen in die Gesetzgebung einbezogen, doch am Ende "wird gegen uns entschieden", sagte er nach durchwachter Nacht.
Im Parlament machten sich die Grünen und die Linksfraktion die kritischen Stimmen aus der Behindertenbewegung zu eigen. Corinna Rüffer von den Grünen sprach von einem "mutlosen" Gesetz. Katrin Werner von der Linksfraktion nannte es lebensfern: "Das Leben der Menschen spielt sich nicht in den Bundesbehörden ab." Der Behindertenpolitiker der Union, Uwe Schummer (CDU), hielt der Opposition entgegen, was der Bund tue, habe Vorbildcharakter. Die Wirkungen des Gesetzes reichten weit über seinen Geltungsbereich hinaus.
Die Novelle des Behindertengleichstellungsgesetzes, das seit 2003 in Kraft ist, sieht vor, dass alle Bundesbehörden barrierefrei sein sollen. Dies gilt sowohl für Gebäude als auch für die Kommunikation. So sollen Informationstechniken angewendet werden, die auch behinderte Menschen benutzen können. Bescheide soll künftig auch in Leichter Sprache verschickt werden, etwa an lern- oder geistig behinderte Menschen oder solche, die nie richtig lesen gelernt haben. Schummer sagte, die Verbesserungen kämen 7,5 Millionen behinderten Menschen in Deutschland zugute.
Das Gesetz sieht ferner eine bundesweit zuständige Beratungsstelle für Barrierefreiheit vor sowie eine Schlichtungsstelle bei der Behindertenbeauftragten des Bundes, Verena Bentele, die Lösungen finden soll, wenn Bundesbehörden ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Die Interessenvertretungen der behinderten Menschen erhalten mehr Geld, 500.000 Euro zusätzlich in diesem Jahr und von 2017 an eine Million Euro mehr pro Jahr als bisher.