Laut Erkenntnissen der Migrationsforschung sei das Abkommen der Mitgliedsstaaten gescheitert und habe seinen Zweck nie erfüllt, kritisierte Ratsmitglied und Politikwissenschaftler Dietrich Thränhardt am Mittwoch in Berlin. Stattdessen sei ein europäischer Lastenausgleich notwendig.
Mit Blick auf bis zu 200.000 zu erwartende Mittelmeerflüchtlinge im Sommer forderte der Rat eine Fokussierung auf die Seenotrettung. Migrationsforscher Vassilis Tsianos verlangte ein humanitäres Moratorium, das mit der Logik des Grenzschutzes breche und Fluchthilfe zur Priorität mache. Europa brauche eine Kultur des Willkommens im Mittelmeer- und im Schengenraum, sagte Tsianos.
Außerdem forderte das Gremium eine Aufhebung der Visumspflicht für Flüchtlinge aus Bürgerkriegsländern wie Syrien, Eritrea oder Somalia. Diese könnten derzeit in Europa mit Anerkennungsquoten zwischen 80 und 90 Prozent rechnen, sagte die Migrationsforscherin und Ethnologin Sabine Hess. Es sei ein Unding, dass diese Menschen trotzdem auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer geschickt würden.
"In der Schublade verschwunden"
Das in der vergangenen Woche auf einem Sondergipfel der EU beschlossene Zehn-Punkte-Abkommen bezeichneten die Forscher als ein "Dokument der Hilflosigkeit Europas". So sei die Mission "Triton" der Grenzschutzagentur Frontex trotz einer Verdreifachung ihrer Mittel "weiterhin auf Grenzabwehrmaßnahmen ausgerichtet." Zudem beziehe sich nur einer der zehn Punkte auf die Seenotrettung.
Heftige Kritik übten die Wissenschaftler an der Haltung des Bundesinnenministeriums. Thränhardt sagte, es sei offensichtlich, dass das Ministerium Vorschläge anderer Mitgliedsstaaten ausgebremst habe, direkte Einwanderungswege in die EU zu schaffen. Wenn das Ministerium seine "Politik des Nichtstuns" fortführe, gebe es keine Garantie, dass die positive Stimmung in der Bevölkerung anhalte, sich für Flüchtlinge zu engagieren.
Auch Hess kritisierte, die vielen Bootsflüchtlinge seien keine natürliche Erscheinung, sondern "das Produkt einer Verengung der Fluchtwege". Die damalige schwedische EU-Flüchtlingskommissarin Cecilia Malmström habe schon im Jahr 2013 Vorschläge vorgelegt, das zu ändern. Diese seien aber "vor allem auf Drängen des Bundesinnenministeriums in der Schublade verschwunden".
Der Rat für Migration wurde 1998 gegründet und hat seinen Sitz in Berlin. Dem Gremium gehören Wissenschaftler aus ganz Deutschland an.