"Über das erneute Bootsunglück sind wir zutiefst erschüttert", schreiben der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, in einer gemeinsamen Erklärung. Das "vielfache Sterben vor den Küsten unseres Kontinents" sei ein "humanitärer Skandal", an den man sich nicht gewöhnen dürfe. "Der entschlossene Kampf gegen gewissenlose Schleuser ist notwendig", so die beiden Bischöfe und ergänzten: "Wir brauchen sofort eine Seenotrettungsmission in europäischer Verantwortung."
Ein Jahr lang habe die italienische Operation "Mare Nostrum" Vorbildliches geleistet, für die Frontex-Mission "Triton" gelte das nicht. "Deshalb fordern wir mit Nachdruck, zu einem durchgreifenden Konzept der Seenotrettung zurückzukehren", schreiben Bedford-Strohm und Marx. Die Lösung des Flüchtlingsproblems dürfe nicht darin bestehen, "Menschen, die in existenzieller Not vor Krieg, Gewalt und Verfolgung fliehen, sehenden Auges dem Risiko des Ertrinkens auszusetzen". Stattdessen sollten sichere Zugangswege für Migranten und Schutzsuchende eröffnet werden.
Auch Diakonie-Präsident Ulrich Lilie mahnte Konsequenzen für die europäische Flüchtlingspolitik an. "Wir müssen aus den Krisenregionen mehr Flüchtlinge aufnehmen als bisher", erklärte er. "Für Europa heißt das, ein Konzept für eine großangelegte und effektive Seenotrettung und einen gefahrenfreien Weg nach Europa zu entwickeln. Für Deutschland heißt das, die Menschen in unserem Land willkommen zu heißen." Caritas-Präsident Peter Neher sagte: "Die erneute Katastrophe vieler hundert ertrunkener Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer muss endlich dazu führen, dass die EU ihre Flüchtlingspolitik überdenkt." Deshalb müsse Europa die Rettungsmission Mare Nostrum wieder ins Leben rufen.
Humanitäre Korridore und Reisepapiere für Flüchtlinge
Der Präses der rheinischen Landeskirche, Manfred Rekowski, hat die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer als humanitären Skandal bezeichnet. "Es wird für diese Toten nirgendwo einen Staatsakt geben", sagte Rekowski der in Düsseldorf erscheinenden "Rheinischen Post" (Montagsausgabe). Wenn das "christliche Abendland" nicht schnell eine Lösung für die Flüchtlingsfrage finde, werde fragwürdig, für welche Werte Europa einstehe. Der leitende Theologe der Evangelischen Kirche im Rheinland forderte eine neue europäische Flüchtlingspolitik. "Wann folgen auf Worte der Betroffenheit entschlossene Taten?" In einem Brief forderte Rekowski die Gemeinden im Rheinland dazu auf, Gottesdienste und Andachten zur Flüchtlingssituation zu veranstalten, wie er selbst am kommenden Samstag in Wuppertal.
Die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, bedauerte in ihrer Stellungnahme, dass es für die Opfer des Schiffsunglücks keine offizielle Trauerfeier gibt. Kurschus hatte am vergangenen Freitag im Gottesdienst für die Opfer des Germanwings-Flugzeugabsturzes die Predigt gehalten. "Wir dürfen uns nicht an diese Katastrophen gewöhnen", appellierte die Präses. "Europa darf sich nicht erneut und weiterhin schuldig machen. Europa darf nicht länger wegsehen, sich nicht länger abschotten." Deutschland trage eine Mitverantwortung dafür, dass legale Reisewege und eine wirkungsvolle Seenotrettung geschaffen würden. Weiterhin forderte die Präses humanitäre Korridore, ausgehend von EU-Botschaften in Nordafrika, und zeitlich begrenzt gültige Reisedokumente für die Asylsuchenden, damit sie ihre Asylanträge in Europa stellen können. "Der politische Wille zu solchen neuen Wegen ist bisher nicht erkennbar. Aber wenn nichts geschieht, ist der nächste tausendfache Tod nur eine Frage der Zeit", schrieb Annette Kurschus.
Menschen retten statt beim Sterben zusehen
Die evangelischen Kirchen und die Diakonie in Hessen fordern ebenfalls die Einrichtung eines europäischen Seenotrettungsdienstes. "Jetzt erleben wir die schrecklichen Konsequenzen des Beschlusses der EU, die Seenotrettung im Mittelmeer herunterzufahren", sagte der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Volker Jung. "Es ist höchste Zeit umzukehren und Menschen zu retten, statt ihnen beim Sterben zuzusehen", unterstrich Jung, der auch Vorsitzender der Kammer für Migration und Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland ist.
Der Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Martin Hein forderte, Europa müsse angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingskrisen mehr Verantwortung übernehmen und konzertiert Flüchtlinge aufnehmen. Zusätzlich zu dem individuellen Asylrecht sollten humanitäre Aufnahmeprogramme und das Programm zur dauerhaften Neuansiedlung besonders verletzlicher Flüchtlinge großzügiger genutzt werden.
Der württembergische evangelische Landesbischof Frank Otfried July forderte die Politik dazu auf, "alle Anstrengungen zu unternehmen, Katastrophen wie diese für die Zukunft zu verhindern", hieß es in einer Stellungnahme des Bischofs. Es dürfe nicht sein, "dass die dafür Verantwortlichen die Gestaltung der europäischen Flüchtlingspolitik skrupellosen Schleppern überlassen, denen ein Leben nichts, Geld dafür alles ist". July versicherte, er bete "für die Flüchtlinge, Opfer und ihre Angehörigen". Fürbittgebete hatten auch am Sonntag in den Gottesdiensten stattgefunden.
Auch nach Meinung der evangelischen Hilfswerke Brot für die Welt und Diakonie Katastrophenhilfe kann und muss dem Sterben im Mittelmeer Einhalt geboten werden. Die beiden Hilfswerke sprechen sich für ein europäisches Seenotrettungsprogramm – ähnlich wie "Mare Nostrum" – sowie für "legale und sichere Wege nach Europa" aus. "Auch Deutschland darf sich nicht länger mit dem Verweis auf angeblich hohe Kosten gegen eine weitreichende Seenotrettung wehren", sagte Jochen Cornelius-Bundschuh, badischer Landesbischof und Vorsitzender des Ausschusses Entwicklungsdienst und Humanitäre Hilfe von Brot für die Welt.
"Weil es keine legalen Wege für sie gibt, ihr Recht auf Asyl und Schutz einzufordern, sehen sich die Menschen gezwungen, ihr Leben in die Hände von total skrupellosen Schleusern zu geben", sagte Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin von Brot für die Welt und Diakonie Katastrophenhilfe. Die Europäische Union müsse nun endlich Entscheidungen treffen, die das Sterben beendeten. Dabei dürften aber nicht die Würde und die Rechte der Flüchtlinge verletzt werden. "Das Vorhaben, in Nordafrika Asylzentren einzurichten, ignoriert, dass es in diesen Staaten eklatante rechtstaatliche Defizite gibt", sagte Füllkrug-Weitzel. Europa müsse unabhängige, rechtstaatliche Verfahren gewährleisten und dürfe die Verantwortung nicht auf nordafrikanische Staaten abwälzen.
Nach Informationen der UN kenterte das Boot am Samstag kurz vor Mitternacht vor der libyschen Küste, rund 180 Kilometer von der italienischen Insel Lampedusa entfernt. Nach Angaben von Überlebenden waren rund 700 Flüchtlinge an Bord, einer sprach sogar von 950. Nur 28 von ihnen konnten gerettet werden.