Deutschland ist nach Einschätzung der evangelischen Kirche den Herausforderungen durch die steigende Zahl von Demenzkranken bisher nicht gewachsen. "Wir sind völlig unzureichend vorbereitet", sagte der Vorsitzende der Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, am Donnerstag in Berlin.
Es stehe zu wenig ausgebildetes Personal zur Verfügung, und es fehle an Unterstützung für pflegende Angehörige. Als "ethisch sehr kritisch" bewerteten Kirche und Diakonie die globale Arbeitsteilung in der Pflege, sagte Papier. Statt ausländische Kräfte in prekären Arbeitsverhältnisse zu beschäftigen oder Pflegebedürftige im Ausland versorgen zu lassen, "muss unsere Gesellschaft sich selbst auf die Herausforderungen einstellen". Es gehöre zu den Kernaufgaben des Staates, Menschen gegen die Risiken von Krankheit und Pflegebedürftigkeit Schutz zu bieten, betonte der Verfassungsrechtler.
Zahl der Demenzkranken wird sich bis 2050 verdreifachen
Jährlich erkranken rund 140.000 Menschen in Deutschland neu an Demenz. Die gegenwärtige Zahl von rund 1,5 Millionen Erkrankten wird sich allen Prognosen zufolge bis 2050 mindestens verdoppeln, während gleichzeitig die Zahl der Jüngeren abnimmt, die sie pflegen könnten. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation könnte sich die Zahl der Menschen mit dem bislang nicht heilbaren Gedächtnisverlust infolge der Alterung der Weltbevölkerung bis 2050 weltweit auf mehr als 135 Millionen verdreifachen.
In der gemeinsamen Schrift von Kirche und Diakonie mit dem Titel "Wenn die alte Welt verlernt wird. Umgang mit Demenz als gesellschaftliche Aufgabe" geht es aber trotz der offensichtlichen Herausforderungen nicht um Schreckenszenarien. Vielmehr bemühen sich die Autoren, Demenz aus der Scham-Ecke zu holen, die Krankheit neu zu sehen und sie ins Verhältnis zu setzen zu den christlichen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Der Text, der auch Praxisbeispiele enthält, wurde unter Papiers Leitung von der Kammer für Öffentliche Verantwortung, einem EKD-Beratungsgremium, erarbeitet.
Die Angehörigen sind "Helden des Alltags
Papier betonte, der Kirche gehe es um die Würde des schutzbedürftigen und verletzlichen Lebens. Das gelte im Umgang mit Demenz ebenso wie in der gegenwärtigen Debatte um die Sterbehilfe. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie betonte, Demenzkranke hätten ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft. Die Angehörigen, die sie pflegen seien "Helden des Alltags" und müssten auch so behandelt werden. Gleiches gelte für die professionelle Pflege. Pflegekräfte würden in der Regel zu schlecht bezahlt und erhielten nicht die Anerkennung, die sie verdienen, sagte der Diakonie-Chef.
Die Diakonie ist neben dem katholischen Caritas-Verband der größte Pflegeanbieter in Deutschland. Durch Pflegedienste, in Heimen, Krankenhäusern und Hospizen würden mehr als eine Viertelmillion Pflegedürftige versorgt, sagte Lilie.
Kirche und Diakonie fordern mehr Anstrengungen zur Verbesserung der Pflege, mehr Unterstützung für Familien, alternative Wohnformen sowie eine baldige Umsetzung der lange angekündigten Neufassung des Pflegebegriffs. Die bisherigen Schritte der Koalition zur Reform der Pflegeversicherung begrüßen sie ausdrücklich. Großen Wert legt die Kirche darauf, einer Stigmatisierung von Demenzkranken zu begegnen und Diskriminierung zu verhindern. Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen werden ermuntert, in Seelsorge-Angeboten und Gottesdiensten die Leiden der Erkrankten sowie die Sorgen von Angehörigen und Pflegekräften aufzugreifen.