Als ich im Sommer 2009 von der örtlichen Zeitung den Auftrag erhielt, einen neuen Pfarrer im Wiesbadener Stadtteil Schelmengraben vorzustellen, war das für mich als freie Journalistin ein Auftrag wie jeder andere. Ich traf mich mit Peter Boucsein, der aus dem Westerwald in die Landeshauptstadt gekommen war, in einem Café. Es wurde ein nettes Gespräch und es folgte einer der üblichen Zeitungsartikel, in dem ich den neuen Pfarrer unter der Überschrift "Mit Musik will er die Menschen erreichen" den Lesern präsentierte.
Einige Wochen später kontaktierte mich dieser Pfarrer erneut, weil er über die Presse dazu aufrufen wollte, für seine Gemeinde ein Klavier zu spenden. Diese Aktion hatte Erfolg – es war sogar ein Flügel, der ihm geschenkt wurde. Immer wieder einmal gab es dann ein Thema aus der evangelischen Gemeinde in einem der ärmsten Stadtteile Wiesbadens, dem "Schelmengraben".
Längst schon hatten wir uns das "Du" angeboten, gelegentlich gemeinsam zu Mittag gegessen. Ich war katholisch sozialisiert, später zur evangelischen Konfession konvertiert, aber in keiner Gemeinde aktiv und mittlerweile unregelmäßige Kirchenbesucherin. Ich war zweifelnd, aber an Glaubensthemen doch interessiert und suchte immer wieder gerne das Gespräch mit ihm – ganz buchstäblich über "Gott und die Welt". Und er wollte wissen, was mich als Mensch und Journalistin beschäftigt.
Sie freute sich, soweit sie sich noch freuen konnte
Doch noch ahnte ich nicht, welch wichtiges Stück Weges Pfarrer Peter Boucsein mit mir gehen würde. Meine Welt veränderte sich am 10. April des Jahres 2013. An diesem Tag erhielt meine liebste, beste und engste Freundin Tina nach einer Operation, die eigentlich nur Routine gewesen sein sollte, eine niederschmetternde Diagnose: Es war ein extrem bösartiger, schnell wachsender und auf keine Therapie ansprechender Tumor. Schnell war klar, dass ihr nur noch wenig Lebenszeit bliebe.
Ich sprach mit Pfarrer Boucsein und wollte eine Erklärung haben, warum Gott, wenn es ihn denn gibt, solches beschließt. Natürlich hatte er kein Patentrezept, wie wohl kein Pfarrer und keine Pfarrerin der Welt. Doch er hörte mir zu, er betete mit mir um Stärke. Als ich ihn bat, wenn es so weit sei, ob er meine Tina beerdigen würde, sagte er: "Selbstverständlich." Die beiden hatten sich schon ein- oder zweimal auf meinen Garten- und Winterpartys gesehen. Jetzt aber versuchte ich, sie in der verbleibenden Zeit gezielt in Kontakt zu bringen. Tina – ebenso wie ich in eine katholische Familie hineingeboren, dann evangelisch geworden, aber eher distanziert und in keiner Gemeinde eingewurzelt – freute sich über das Angebot, soweit man sich in einer solchen Situation noch freuen kann.
Bach, Bob Dylan und eine Abschiedsrede
Ich besuchte Tina gemeinsam mit Peter, er besuchte sie auch allein. Ich erzählte aus unserem Leben, aus ihrem Leben, und der Pfarrer nahm Anteil an der so ausweglosen Situation, die unweigerlich binnen weniger Monate in den Tod führen sollte. Genau zu wissen, dass nicht mehr viel Zeit bleibt und zu versuchen, diese Tatsache ins verbleibende Leben zu integrieren war eine Herkulesaufgabe, die kaum zu bewältigen war. In Gesprächen mit Peter, die nicht häufig, aber intensiv geführt wurden, versuchte ich, meine Wut auf Gott, das Schicksal, den Krebs, letztendlich auf alles irgendwie loszuwerden und dennoch auch für das Schreckliche zu planen.
Als Tina im vergangenen Mai starb, öffnete Peter am Abend ihres Todes seine Kirche für mich. Um Mitternacht zündeten wir eine Kerze an, beteten gemeinsam und hörten Musik. So ging dieser furchtbare Tag mit einem kleinen Ritual zu Ende, das mir ein wenig half. Später gestalteten wir gemeinsam mit der Familie die Trauerfeier. Peter ließ mich Musik von Bach und Bob Dylan auswählen, eine Abschiedsrede schreiben und halten, nahm sich selbst zurück. Zusammen bewältigten wir diese Beerdigung, die auch noch ausgerechnet an meinem 50. Geburtstag stattfand. Auch dies wusste "mein" Pfarrer zu integrieren. Selten ist es für ihn ja so, dass er die Verstorbene und die Hinterbliebenen vor einer Trauerfeier so gut kennen gelernt hat. Sein Engagement war spürbar.
Eine prägende, intensive, schwere Zeit
Nun geht seine Wiesbadener Zeit dem Ende entgegen. Fünf Jahre vor seinem Ruhestand wird seine Stelle im Zuge von Sparmaßnahmen gestrichen und er zum Wegzug aus dem Dekanat genötigt. Seine Gemeinde im sozialen Brennpunkt trauert. Sie lässt ihn nur ungern ziehen: "Verwaltung mag er nicht", sagt mir sein Vorstandsvorsitzender, "er ist Seelsorger durch und durch!"
Ich weiß noch nicht, wie sich unser Kontakt in Zukunft gestalten wird, wenn er eine Gemeinde auf dem Land, wohl im Westerwald, leiten wird. Aber es wird immer die Erinnerung bleiben, dass er ein Stück Weg in einer sehr prägenden, intensiven, schweren Zeit mit mir gegangen ist. Dafür bin ich sehr dankbar.