"Zivilgesellschaft braucht Mut zum Widerspruch"

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"Zivilgesellschaft braucht Mut zum Widerspruch"
Der Historiker Paul Nolte sieht in der islamfeindlichen "Pegida"-Bewegung vor allem ein regional und zeitlich begrenztes Phänomen. Für ein Erstarken durch eine charismatischen Führerfigur sieht er kein Indiz. Nolte sprach im epd-Interview über die Rolle der Zivilgesellschaft, nachlassendes Demokratie-Vertrauen sowie über Parallelen und Unterschiede zum Deutschland der 1920er Jahre.
20.01.2015
epd
Thomas Schiller

Ablehnung der Demokratie, Diffamierung der Medien, Schüren von Bedrohungsängsten gegen eine nicht-christliche Religion - das gab es in Deutschland schon einmal. Sehen Sie Parallelen zwischen der "Pegida"-Bewegung und dem Erstarken der radikalen Kräfte in den 1920er Jahren?

Nolte: Ich sehe überwiegend die Unterschiede und nicht die Parallelen. Der wichtigste Unterschied ist die Stärke einer demokratischen Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik. Seit den 70er Jahren hat sich über die politischen Institutionen der bundesrepublikanischen Demokratie eine starke bürgerliche Zivilgesellschaft gelegt. Man erkennt sie, wenn "Pegida"-Proteste von Anti-"Pegida"-Protesten überlagert werden, und in vielen Städten wie in Berlin oder in Westdeutschland überwiegen klar die Gegendemonstrationen.

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Und wo liegen Parallelen zu den 20er Jahren?

Nolte: Eine Schwäche der Weimarer Republik war die Schwäche des Bürgertums. Dessen Verhalten beim Übergang zum Nationalsozialismus ist von Soziologen als "Extremismus der Mitte" bezeichnet worden. Und das finden wir in den sozialwissenschaftlichen Beschreibungen der Pegida-Proteste wieder. Das sind Menschen, die gar nicht am Rande der Gesellschaft stehen, keine Arbeitslosen oder sozial Abgehängten.

Wie werden solche außerparlamentarischen Bewegungen zu relevanten Machtfaktoren?

Nolte: Ihre Existenz wird von den Medien sehr schnell wahrgenommen und in einen Zusammenhang gestellt, für den wir sensibel geworden sind. Die Erscheinungsform "Pegida" ist zwar neu, aber die Bundesrepublik hat eine jahrzehntelange Erfahrung mit rechtspopulistischen Bewegungen, denken Sie an die Republikaner in den 80er Jahren. Auch das Arsenal der politischen Reaktionen dagegen ist eingeübt, etwa Gelassenheit, Mahnwachen, das Spektrum reicht von scharfer Abgrenzung bis zum Brückenbau, um eine Rückkehr in die demokratische Vernunft zu erleichtern. 

Wie gefährlich wäre es, wenn im rechtspopulistischen Bereich eine charismatische Führerfigur auftauchen würde?

Nolte: Das ist natürlich eine hypothetische Frage. In den 1920er Jahren hatte die Person Adolf Hitlers für das Erstarken der NSDAP schon eine starke Bedeutung. Aber auch die Proteststrukturen waren damals ganz andere. Heute sehe ich in Deutschland nur ein geringes Risiko, dass eine solche Führerfigur auftritt. Und das ist möglicherweise kein Zufall, weil es nach meinem Eindruck keinen Bedarf dafür gibt. Wir stellen uns ja seit Jahrzehnten die Frage: Warum gab es in Deutschland keinen Jörg Haider wie in Österreich, und warum blieb Franz Schönhuber ein politischer Zwerg? Und warum gibt es keinen oder keine Le Pen? Das Charakteristische der Proteste in der Bundesrepublik ist, dass sie sich nicht auf eine charismatische Figur richten, sondern lieber diffus bleiben möchten. Auch in der AfD finde ich kein Charisma.

Wie schätzen Sie die Positionierungen der Partei "Alternative für Deutschland" zu "Pegida" und ihren Ablegern ein?

Nolte: Das ist eine offene Frage, weil die Strukturen in beiden Bewegungen noch nicht gefestigt sind. Es gibt starke Überlappungen und Versuche der Instrumentalisierung in beide Richtungen. Von der Mobilisierung der AfD hat die "Pegida"-Bewegung wahrscheinlich profitiert, weniger direkt als durch Schaffung eines Protestklimas rechts der Unionsparteien.

"Die klassische Demokratie der alten Bundesrepublik konnte sich in Ostdeutschland nach der Wende so nicht herausbilden"

Haben die Ängste, die "Pegida" schürt und damit Tausende mobilisiert, einen rationalen Kern?

Nolte: Von einem rationalen Kern würde ich nicht sprechen. Die Ängste haben eine Projektionsfläche. Das sind Unzufriedenheiten mit politischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen. Es gibt Herausforderungen in der Zuwanderung in die Bundesrepublik und Schwierigkeiten mit der kulturellen und religiösen Vielfalt - darüber müssen wir sprechen. Seit dem 11. September 2001 diskutieren wir etwa den Platz des Islam in der europäischen und deutschen Gesellschaft. Aber auf dieser Sachebene setzt sich "Pegida" nicht auseinander - sie instrumentalisiert das Thema bloß.

Stehen die geringe Wahlbeteiligung - bei der sächsischen Landtagswahl - und das Aufkommen einer außerparlamentarischen Protestbewegung in einem Zusammenhang?

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Nolte: Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Rückzug aus der Wahl-Demokratie und der Bindung an politische Parteien. Ob die "Pegida"-Demonstranten überproportional stark zu den Nichtwählern bei den Wahlen in Sachsen gehört haben, bleibt aber noch zu erforschen.

Hat es Versäumnisse beim Aufbau demokratischer Strukturen in den letzten 25 Jahren gegeben, die das Entstehen von "Pegida" gefördert haben?

Nolte: Die klassische Demokratie der alten Bundesrepublik mit ihren Partei- oder Vereinsstrukturen, mit kirchlichen und konfessionellen Bindungen, konnte sich in Ostdeutschland nach der Wende so nicht herausbilden. Die Menschen aus der DDR wurden gleich in diese fortgeschrittene Phase der Demokratie der Bundesrepublik hineingeworfen.

Und wie sieht Ihre Bilanz nach 25 Jahren aus?

Nolte: Insgesamt würde ich den Aufbau der Bürgergesellschaft in den neuen Bundesländern als großen Erfolg bezeichnen. Man muss langen Atem haben - 25 Jahre sind historisch gesehen keine lange Zeit. In den USA hat die Integration der Südstaaten nach dem Bürgerkrieg mehrere Generationen lang gedauert.

Wird "Pegida" öffentlich überschätzt?

Nolte: Meine Prognose ist, dass dieser Bewegung keine besonders lange Lebensdauer beschieden sein wird. Sie ist stärker ein regional verankertes Phänomen in Dresden, das sich in anderen, besonders in westdeutschen Städten als Fehlzündung erweist.

"Gegensteuern und widersprechen. Auch das ist eine zivilgesellschaftliche Aufgabe"

Warum ausgerechnet Dresden? Liegt es an der DDR-Geschichte, wie die sächsische Kultusministerin Brunhilde Kurth vermutet? Oder hat gar die Traumatisierung durch die Bombardierung Dresdens 1945 noch Spätfolgen für das politische Selbstbewusstsein?

Nolte: Ich würde nicht so weit zurückgehen. Im Vordergrund steht für mich eine gewisse ostdeutsche Anfälligkeit, die auch in anderen Städten denkbar wäre: die Mobilisierung eines mittelständisch-bürgerlichen Protestes, der über relativ schwache demokratische Traditionen und Wertbindungen verfügt. Dabei spielt auch die mehrheitliche Konfessionslosigkeit eine Rolle, nicht weil religiöse Menschen besser sind, sondern weil sie fester in zivilgesellschaftlich-liberalen Strukturen verankert sind.

Aber schon innerhalb Sachsens waren die Kräfteverhältnisse zwischen "Pegida"-Bewegung und Gegendemonstranten schon in Leipzig genau umgekehrt wie in Dresden.

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Nolte: Der Unterschied zwischen Dresden und Leipzig hat vermutlich damit zu tun, dass Leipzig auf eine andere Tradition der friedlichen Revolution 1989 zurückblickt und damit das bürgerrechtliche Moment stärker ist als in Dresden. Doch statt die Dresdner in die Ecke zu stellen, sollten wir uns insgesamt als Gesellschaft den Spiegel vorhalten.

Was sehen Sie in diesem Spiegel?

Nolte: Darin sehe ich das Grundproblem eines nachlassenden Demokratie-Vertrauens der Bevölkerung, einer Abkopplung von der Hauptströmung der offenen Gesellschaft und deren Diskursen, die manche Menschen überfordern. Der Ruf "Lügenpresse" zeigt ja, dass nicht nur der Politik, sondern auch den Medien Misstrauen entgegen gebracht wird. Stattdessen bauen sich diese Menschen eine Parallelwelt auf. Wir sollten aus "Pegida" lernen, das ernster zu nehmen.

Was ist zu tun?

Nolte: Gegensteuern und widersprechen. Auch das ist eine zivilgesellschaftliche Aufgabe - von Parteien, Kirchen und Verbänden ebenso wie von jedem Einzelnen. Wenn der Arbeitskollege oder Nachbar sagt, Politiker würden ohnehin nur machen, was sie wollen, oder Medien würden lügen - auch wenn wir in Internet-Kommentaren diese Einstellungen wiederfinden, dann braucht es Mut zum Widerspruch.