Die Ansicht, die Mittelschicht vertrete fortschrittliche und liberale Ideale sowie marktwirtschaftliche Prinzipien sei zwar weit verbreitet, entspreche aber nicht den Fakten, schreibt der Historiker Sanjay Joshi (USA) in einem Beitrag für das Frankfurter Magazin "welt-sichten" (Oktoberausgabe).
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Die Menschen, die in China, Brasilien, Russland, der Türkei, Indien oder Indonesien zu etwas Wohlstand und Bildung gelangten, eiferten westlichen Vorbildern oft nicht nach. Das gelte auch, wenn sie sich selbst als Angehörige der Mittelschicht verstehen. Ohnehin sei der Begriff schwer zu definieren. "Die Mittelklasse ist als kulturelles Konstrukt ein Produkt der Geschichte", erklärt Joshi.
Dabei sei die Haltung der Mittelklasse nie frei von Widersprüchen gewesen. So grenzten zum Beispiel Inder, obwohl sie sich als fortschrittliche Mittelschichtler verstehen, heute Angehörige niederer Kasten und Frauen weiter aus. "Die Amerikaner waren im Umgang mit Frauen und ethnischen Minderheiten nicht viel besser", betonte Joshi, der an der Northern Arizona University in den USA lehrt. Eine von Aberglauben und Vorurteilen freie Mittelschicht sei auch im Westen stets ein abstrakter Idealtyp gewesen.
Literaturhinweise
Sanjay Joshi, Fractured Modernity. Making of a Middle Class in Colonial North India, Oxford, 3. Auflage 2005.
Das Oktoberheft des Magazins "welt-sichten" hat das Schwerpunkt-Thema Mittelschichten.