Wann immer es um Gewalt gegen Kinder oder um pädophilen Missbrauch geht, sind die Bilder eine Gratwanderung. Für Regisseure ist die Frage, wie sie das Grauen inszenieren sollen, eine echte Zwickmühle: Einerseits dürfen die Ereignisse keinesfalls verharmlost werden, andererseits will sich niemand Voyeurismus vorwerfen lassen; und schließlich spielt bei einem Fernsehfilm, der um 20.15 Uhr ausgestrahlt werden soll, auch der Jugendschutz eine große Rolle. Dror Zahavi hat sich bei seinem Drama über die Misshandlungen von Heimkindern in den Sechzigerjahren ("Und alle haben geschwiegen") für eine Bildgestaltung entschieden, die perfekt die düstere Atmosphäre dieser Einrichtung einfing. Christoph Röhl und sein Kameramann Peter Steuger haben einen völlig anderen Weg gewählt: Mit seinem Sonnenlicht und den fröhlichen Farben wirkt "Die Auserwählten" wie ein heiterer Familienfilm. Die entsprechende Atmosphäre passt nicht nur zu der Zeit, in der sich der größte Teil der Handlung zuträgt, sondern auch zu dem ausgezeichneten Ruf, den die Odenwaldschule im hessischen Heppenheim jahrzehntelang genoss. Gerade in den Siebzigerjahren galt die Eliteeinrichtung als Vorbild für die Reformpädagogik. Steugers Bilder zeigen eine sympathische Architektur in märchenhaft schöner Landschaft. Nichts an dieser fantastischen Fassade deutet darauf hin, welches Grauen die Zöglinge hier viele Jahre lang erdulden mussten; bis heute sind über 130 Fälle systematischen Missbrauchs bekannt.
Niemand schenkt ihr Glauben
Jede Handlung steht und fällt mir ihrer Hauptfigur, aber für solche Geschichten gilt das natürlich erst recht. Das Autoren- und Ehepaar Sylvia Leuker und Benedikt Röskau ("Contergan") hatte einen in seiner Schlichtheit brillanten Einfall: Sie schildern die fiktional verdichteten Ereignisse aus Sicht einer engagierten jungen Lehrerin. Petra (Julia Jentsch) kommt Ende der Siebziger an die Schule und ist angesichts der lockeren Sitten zunächst befremdet; alle duzen sich, Drogen und Alkohol gehören zum Alltag, und niemand stört sich daran, dass ein Kollege ein Verhältnis mit einer Schülerin hat. Zwar benehmen sich einige Kinder auffällig, doch der charismatische Schulleiter Pistorius lächelt alle schüchternen Einwände weg. Schließlich wird Petra klar, dass er die Jungs regelmäßig missbraucht, aber ganz gleich, an wen sie sich wendet: Niemand schenkt ihr Glauben; und Pistorius hat mächtige Freunde. Hinzu kommt der Zeitgeist der Siebziger: Natürlich gibt es Menschen, die Petras Vorwürfe ignorieren, weil nicht sein kann, was nicht sein darf; aber andere wollen schlicht vermeiden, als rückständig zu gelten.
Julia Jentsch konnte im Grunde nicht viel falsch machen: Petra ist jung, hübsch, sympathisch und anfangs ein bisschen naiv; eine ideale Identifikationsfigur, die Regisseur Röhl mit Alice im Wunderland vergleicht. Umso wichtiger war die Besetzung des Schulleiters, und wenn man erst mal Ulrich Tukur in dieser Rolle gesehen hat, kann man sich keinen anderen mehr vorstellen: weil er den Menschenfänger, der seine Umgebung mit Charme und Chuzpe manipuliert, ebenso großartig verkörpert wie den Unhold, der sich an wehrlosen Kindern vergreift. Gleichzeitig vermeiden es Leuker und Röskau geschickt, Pistorius zu einem Monster zu machen, von dem man sich leicht distanzieren kann. Der Film spielt zwar an der Odenwaldschule (und ist auch dort gedreht worden), doch die Einrichtung soll exemplarisch für alle anderen stehen, die sich bis heute nicht oder zu wenig mit den Vorfällen sexueller Gewalt auseinander gesetzt haben. Missbrauch, informiert eine Schrifttafel am Ende, verjährt; "nicht jedoch für die Betroffenen."
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Eine ganz besondere Herausforderung dürften die Szenen mit den Jugendlichen gewesen sein, aber Röhl, der vor 25 Jahren als Tutor an der Odenwaldschule beschäftigt war und 2011 bereits einen Dokumentarfilm über die Missbrauchsfälle gedreht hat ("Und wir sind nicht die Einzigen"), führt sie ganz großartig; das gilt vor allem für Leon Seidel, der sich neben den Profis Tukur und Jentsch ganz ausgezeichnet hält. Ein kleiner genialer Moment ist der Übergang von der Gegenwart des Jahres 2010, als ehemalige Schüler auf ihr Schicksal hinweisen, in die Handlungszeit des Films: Petra (Johanna Gastdorf) erinnert sich an ihre Zeit als Lehrerin und nimmt die Züge ihres jüngeren Alter ego an.