Keine einzige der bislang sieben Münchener "Polizeiruf"-Produktionen mit Matthias Brandt als Hauptkommissar Hanns von Meuffels war ein Krimi wie viele andere. Jeder einzelne Film war sehenswert, einige waren herausragend; Hans Steinbichlers Beitrag "Denn sie wissen nicht, was sie tun" musste gar aus Jugendschutzgründen in den späten Abend verschoben werden, weil die Geschichte zu spannend war. Auf der Suche nach einem Filmemacher, der diese einzigartige Qualität womöglich noch steigern kann, musste der Bayerische Rundfunk fast zwangsläufig über kurz oder lang bei Alexander Adolph landen. Der Regisseur steht gemeinsam mit Dominik Graf für die besten München-Krimis überhaupt. In seiner Geburtsstadt hat er die vielfach preisgekrönte ZDF-Reihe "Unter Verdacht" (mit Senta Berger) entwickelt, hier hat er einige großartige "Tatort"-Beiträge gedreht (Grimme-Preis für "Im freien Fall"). Von Adolph stammen auch die Auftaktfilme zur neuen ZDF-Samstagsmarke "München Mord", und selbstredend gelingt es ihm, dem stets so beherrschten einzigen Aristokraten unter den Sonntagsermittlern neue Serien abzugewinnen.
Das Grauen ist stets gegenwärtig
Adolphs große Kunst besteht unter anderem darin, seine Arbeit mühelos erscheinen zu lassen. Darüber hinaus ist es nicht zuletzt dem perfekten Zusammenspiel der verschiedenen technischen Bereiche zu verdanken, dass "Morgengrauen" selbst innerhalb der herausragenden "Polizeiruf"-Krimis mit Brandt eine spezielle Rolle einnimmt. Viele Einstellungen sind vordergründig harmlos. Allein die Akustik sorgt dafür, dass das Grauen stets gegenwärtig ist, was wiederum dazu führt, dass sich die Figuren ihrer Sache niemals sicher sein können. Das gilt vor allem für Meuffels selbst, aber der ahnt davon nichts, als er das Vertrauen eines Mordverdächtigen gewinnt und dem jungen Mann im Nu ein Geständnis entlockt. Kurz drauf ist der Jugendliche tot, offenbar hat er sich im Gefängnis stranguliert. Das ist zwar furchtbar, hat aber einen angenehmen Nebeneffekt: Sein Tod beschert Meuffels ein Wiedersehen mit Abteilungsleiterin Karen Wagner (Sandra Hüller).
Es mag als Methode schlicht wirken, wie Adolph seine beiden großartigen Hauptdarsteller die Verliebtheit verkörpern lässt, doch es ist bewegend anzuschauen: Der Kommissar und die Psychologin sind absolute Profis auf ihrem Gebiet und agieren fachlich entsprechend souverän, aber weil ihre Gefühle sie regelrecht aus der Bahn werfen, sind beide im Umgang miteinander derart befangen, dass sie bloß noch tollpatschig vor sich stammeln. In diesem Momenten trüge der Film beinahe Züge einer romantischen Komödie, wäre da nicht der mörderische Hintergrund: Der Tod des Jungen war nicht der erste dieser Art; es gab neun Suizide in den letzten zwei Jahren. Dank der Hinweise seines alten Schulfreunds Max (Axel Milberg), auch er Gefängnispsychologe, keimt in Meuffels der furchtbare Verdacht, dass ausgerechnet Karen Wagner mehr darüber wissen könnte, als ihm lieb ist.
Mit Ausnahme der Liebesszenen knüpft "Morgengrauen" nahtlos an die Düsternis der meisten bisherigen Meuffels-Krimis an. Die Welt, in der Adolph seine Geschichte angesiedelt hat, ist derart böse, dass selbst die Guten böse sind. Das gilt vor allem für die faszinierendste Figur der Geschichte, einen zwielichtigen KDD-Kollegen, dessen viele Facetten der Österreicher Andreas Lust so glaubwürdig spielt, dass man gemeinsam mit Meuffels eine ausgewachsene Antiphatie gegen ihn entwickelt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Trotzdem ist ausgerechnet dieser Polizist, der Verdächtige verprügelt, aber seinen Kindern gewalthaltige Computerspiele verbietet, am Ende der einzige, der dem untröstlichen verzweifelte Hauptkommissar in seinem Kummer beisteht.
Ähnlich groß wie der Anteil der Bildgestaltung (Jutta Pohlmann) ist die Wirkung der oft quasi bloß aus Geräuschen bestehenden Musik (Christoph M. Kaiser, Julian Maas), die immer wieder Ausrufezeichen setzt; das Sounddesign trägt ohnehin maßgeblich dazu bei, dass "Morgengrauen" wie ein normaler Krimi aussieht, sich aber wie ein Horrorfilm anfühlt.