Martin Kreuels erstes Totenfoto war zugleich das letzte Bild seiner Frau Heike. Sie liegt einfach da, die Augen geschlossen, die Schläfen grau - ganz als würde sie schlafen. Genau genommen stammt das Bild gar nicht von ihm, sondern von seinem Sohn Anton. Sechs Jahre alt war dieser im Januar 2009 - damals, als seine Mutter an Krebs starb. "Mein Sohn hat ganz einfach intuitiv gehandelt. Aber wir haben schnell festgestellt, dass es hilft: Meine Kinder gucken sich dieses letzte Bild immer noch oft an. Der Tod wird dadurch realer", sagt Martin Kreuels, der im westfälischen Münster lebt.
Den Tod greifbarer machen
Was mit einer persönlichen Tragödie begann, ist heute für Kreuels ein kleines Stück Routine. Er arbeitet als Totenfotograf. Menschen, deren Väter, Mütter, manchmal auch Kinder gerade gestorben sind, wenden sich an ihn und bitten ihn darum, ein letztes Foto zu machen. Martin Kreuels erfüllt ihnen diesen Wunsch - und hilft ihnen damit, zu verstehen, was passiert ist, meint er. "Der Tod wird dadurch greifbarer, man bekommt eine reale Vorstellung. Vor allen Dingen Kinder, aber auch Erwachsene können so besser abschließen", sagt er.
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Ungefähr einmal in der Woche fotografiert Kreuels einen Toten. Er wird dazu meistens in die Räume des Bestattungsinstituts gerufen, mit dem er zusammenarbeitet und findet dort den Verstorbenen aufgebahrt vor. Ungefähr eine Stunde nimmt er sich für eine Fotoserie, manchmal auch zwei - das ist deutlich mehr Zeit, als ein Fotograf meistens mit einem lebenden Menschen verbringt und hat einen simplen Grund. "Einen Lebenden kann ich dirigieren. Einem Toten kann ich dagegen keine Anweisungen geben, sondern muss ihn alleine inszenieren."
Beim Inszenieren rührt Kreuels den Leichnam nicht an, sondern lässt ihn so, wie ihn der Bestatter gerichtet hat. Es geht einzig und allein darum, die richtige Perspektive zu finden und die richtige Einstellung. Meistens in schwarz-weiß und immer ohne Blitz. "Bei einem Toten wirkt ein Blitz unheimlich brutal. Fast ein bisschen so, als wenn man ihm ins Gesicht schlägt."
In Vergessenheit geratenes Handwerk
So ungewöhnlich Kreuels Arbeit anmutet - im Grunde macht er nichts Neues. Fotos von Toten sind so alt wie die Fotografie selbst - und die Idee sogar noch ein bisschen älter, sagt der Kunstwissenschaftler Jens Guthmann. "Schon in der Zeit vor Aufkommen der Fotografie gab es ein großes Interesse an gemalten Toten. Das wurde dann im neuen Medium einfach fortgeführt."
Anfangs sei es sogar leichter gewesen, einen Toten zu fotografieren als einen Lebenden. "1827 hat ein Foto acht Stunden Belichtungszeit gebraucht. Da hat man eben Motive gesucht, die stillhalten." Dieser Punkt sei allerdings nicht wirklich ausschlaggebend gewesen für den Erfolg der Totenfotografie - was man alleine schon daran merke, dass sie auch mit dem Fortschreiten der Technik populär blieb. "Ende des 19. Jahrhunderts gehörte es zum Job jedes Fotografen, Tote zu porträtieren. Es gab sogar Fotografen, die sich spezialisiert hatten", sagt Guthmann. So lasse sich etwa für München ein Atelier am Südfriedhof nachweisen, in dem sich Totenfotografen angesiedelt hatten.
Erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges geriet die Totenfotografie ein wenig in Vergessenheit. Das mag damit zu tun haben, dass die Menschen zu dieser Zeit das Thema Tod noch weniger an sich heranlassen wollten als ohnehin schon üblich. Vor allem aber wurden Fotokameras langsam zum Alltagsgegenstand. "Totenfotografie war vermutlich immer flächendeckend in der Bevölkerung verbreitet", sagt Jens Guthmann. Sie wanderte nur ins Private ab. Darüber geredet wurde nicht mehr.
"Wichtig für den Trauerprozess"
Guthmann bedauert den Bedeutungsverlust der Totenfotografie. Denn sie vollbringt das Wunder, dass sie einen Menschen gleichzeitig zum Leben erwecken und doch tot lassen kann, wie er sagt. "Das Foto eines Toten kann für den Trauerprozess enorm wichtig sein. Man kann sich noch mal vor Augen führen, wie jemand ausgesehen hat. Zugleich hilft sie den Menschen dabei, sich zu vergewissern, dass jemand auch wirklich tot ist."
Auch Kreuels hält es für wichtig, dass die Totenfotografie von ihrem Tabu befreit wird. "Wir kennen in unserer Gesellschaft Bilder aus allen Lebensphasen, nur nicht von der letzten. Da kommen wir früher oder später alle hin - aber das wird einfach ausgeblendet." Nicht so bei Martin Kreuels. Das Foto seiner toten Frau ist da, wo es für ihn hingehört: Bei ihm zu Hause an der Wand.