Kinder sind "begabt genug" - auch mit einer 5 in Mathe

Kinder sind "begabt genug" - auch mit einer 5 in Mathe
Deutsch: 2. Englisch: 3. Sport: 1. Mathe: 5. Ist ein Kind mit diesen Noten "begabt genug"? Was sagen Schulnoten eigentlich aus über die Begabungen? Und wie fühlen sich Lehrer beim Notengeben? Das Thema der evangelischen Fastenaktion "7 Wochen ohne falschen Ehrgeiz" lautet in dieser Woche: "Begabt genug? Nicht alles - allein - können müssen". Drei Lehrer denken bei evangelisch.de über Noten für begabte Kinder nach.
02.03.2012
Protokolle: Franziska Fink, Anne Kampf, Hanno Terbuyken

Christiane Rösener: "Als Mensch bist du unabhängig von der Note wertvoll"

Christiane Rösener (42) ist seit 2008 Dozentin für Religionspädagogik an der Leibniz-Universität Hannover. Vor dieser Tätigkeit hat sie fünf Jahre lang an zwei Hannoveraner Gymnasien Ev. Religion und Spanisch unterrichtet.

"Unser Schulsystem ist in hohem Maße selektiv. Natürlich gibt es Schüler, die "nicht begabt genug" sind und durch das Raster fallen. Man kann sagen, dass sie zu wenig mitbringen - oder, und so sehe ich es: Unser Schulsystem bietet zu wenig Fördermöglichkeiten. Wenn wir Noten geben, dann benoten wir nicht Begabungen, sondern das, was die Schüler an Leistungen zeigen. Es müsste vorher klar sein: Die und die Kriterien müssen erfüllt sein, damit es "sehr gut" ist oder eben nur "ausreichend" ist. Manchmal vermischt es sich in der Wahrnehmung der Schüler. Sie fühlen sich dann als ganze Menschen benotet - und auch abqualifiziert. (Foto links: Leibniz-Universität Hannover)

Martin Luther hat zwischen "Person" und "Werk" unterschieden. Ich finde es als Religionslehrerin ganz wichtig, den Schülern zu sagen: "Als Mensch bist du unabhängig von der Note wertvoll. Trotzdem ist diese Leistung jetzt nur im Bereich von 'befriedigend', und da hast du noch mehr Möglichkeiten, dich zu entwickeln." Die Note sollte auch nicht als Zahl einfach nur genannt, sondern in eine Begründung eingebettet werden, die Wertschätzung und Entwicklungspotenzial deutlich macht. 

Im Religionsunterricht sollte es auch immer Räume geben, in denen nicht benotet wird. Ich sage dann: "Dieses Thema ist für uns einfach als Personen wichtig, da möchte ich jetzt gerne hören, was ihr dazu denkt." Es kommt auch im Religionsunterricht nicht darauf an, dass die Schüler sich als gute Christen zeigen oder dass sie alle sagen, dass sie an Gott glauben. Sondern es kommt darauf an, sich auf einen Prozess des Nachdenkens einzulassen. Ob am Ende persönlicher Glaube rauskommt, das darf für die Notengebung keine Rolle spielen.

Aus theologischen Gründen ist das Notengeben im Religionsunterricht immer wieder umstritten. Manche sagen, die Rechtfertigungslehre müsste uns dazu bringen, in Religion keine Noten zu geben. Weil vor Gott nicht die Leistung zählt, sondern allein der Glaube. Diese Lehrer geben zum Beispiel allen eine Zwei. Ich finde, insgesamt könnte man durchaus überlegen, ohne Noten zu arbeiten, aber dann als gesamtes Schulprinzip, in dem man mit anderen Rückmeldungsformen arbeitet. Ich denke, Rückmeldung brauchen Kinder und Jugendliche auf jeden Fall. Man kann sehr darüber diskutieren, ob die blanke Notengebung eine schlaue Form ist. Aber der Religionsunterricht ist Teil des Bildungssystems, und das System bewertet nun einmal. Da würde sich der Religionsunterricht meiner Ansicht nach lächerlich machen, wenn er sagen würde: Wir nehmen uns jetzt aus allem raus."


Martin S.: "Man muss immer den individuellen Schüler sehen"

Martin S. (31) hat Freie Kunst an der Kunsthochschule in Kassel und an der Städelschule in Frankfurt studiert. Er arbeitet seit August 2011 als Lehrer in Anstellung an einem niedersächsischen Gymnasium und unterrichtet Kunst.

"Erstmal geht es ja nicht darum, Begabungen zu erfassen, wenn man benotet. Die Arbeit dabei besteht darin, dass man Noten sammelt, um letztlich eine Endnote, die dann auf dem Zeugnis steht, zu erstellen. Das bemisst nicht die Begabung eines Schülers.

Es gibt eine Unmenge an Kriterien, die man sich vorher ganz klar zurechtlegen muss, bevor man  die Arbeiten der Schüler untereinander vergleicht und mit einer Note bewertet. Und diese Kriterien haben nicht wirklich was mit Begabung zu tun. (Foto links: privat)

Man kann benoten, dass bestimmte Vorgaben aus dem Aufgabentext entnommen und angewendet wurden. Zum Beispiel bei der Auswahl bestimmter Farbkontraste, also wenn man sagt "Komplementärkontrast", dass da auch wirklich blau und orange verwendet wird. Das sind Sachen, die sind handfest und bei sowas fängt's an. Die schwierigsten Punkte sind dann: Was entsteht am Ende, was kommt dabei heraus? Ich nenne das "Gesamteindruck". Ich kann mich natürlich auch nicht dagegen wehren, dass man denkt "Ach das sieht aber toll aus". Denn das sind die Punkte, wo am ehesten noch Begabung reinspielt. Und das ist dann auch der schwierigste Punkt, wirklich jede Arbeit für sich zu begutachten und dann zu sagen "Ok, du bekommst eine Eins und du eben keine."

Die erste Vorbereitung zur Notenvergabe ist, sich bei Lehrern vorher zu erkundigen, die das jahrelang schon machen. Es gibt auch Literatur dazu, gerade zu dem Thema "Beurteilen und Benoten im Kunstunterricht". Aber dann muss man sich auch einfach der Sache aussetzen und vor allem sehen, dass man selber Kriterien entdeckt, nach denen man Bewertungsunterschiede festmachen kann. Da helfen einem dann noch so viele Ratschläge nicht, wenn man den ersten Satz Bilder vor sich hat und sich zurechtfinden muss. Aber wenn man dann 20 Mal die Situation hatte, wird es immer etwas einfacher.

Ziffernoten bringen ja immer so eine systematische Begrenzung mit sich, man hat eben kaum Spielraum, um wirklich zu sagen, was man jetzt genau bewertet hat. Da wäre mir oft eher geholfen, wenn ich mir die Ziffernote einfach sparen und sagen könnte "Das ist so und so, aber probier doch jetzt lieber mal das und das." Gerade am Anfang habe ich immer freigestellt, ob ich etwas benoten soll oder nicht oder ob ich nur was dazu sagen soll. Und da wollen immer alle Schüler eine Note, denn das ist die Form von Feedback, die sie kennen und die auch zwischen allen Fächern konstant bleibt. Ich glaube aber, wenn das grundsätzlich verändert werden würde, dann würde das auch genauso gut funktionieren. Schüler wollen einfach gerne Feedback haben. Ich glaube, das ist der Punkt und nicht, dass sie gerne Ziffernoten haben möchten.

Ich würde auch keine Unterscheidung machen zwischen Kunst und Mathe oder Musik und Englisch. In dem einen bekomme ich Ziffernoten, also in dem "anspruchsvollen" Fach, und in dem musischen Fach, naja, das ist ja nicht so wichtig, da bekomme ich dann halt keine. Wenn man so unterscheidet, dann marginalisiert man ja auch die musischen Fächer.

Man sollte sich von vornherein überlegen, was bedeutet eine schlechte Note im Fach Kunst? Was soll die bemessen, was soll die ausdrücken, auch den Schülern gegenüber? Man muss immer den individuellen Schüler sehen und versuchen einzuschätzen, was im Bereich seines Potentials liegt. Dementsprechend kann man dann auch die Note anpassen. Das finde ich im Fach Kunst völlig legitim.

Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass die Tendenz zu eher guten Noten motivierend wirkt. Die Schüler denken nicht, da gebe ich jetzt mal irgendeinen Kram ab, denn da bekomme ich im schlimmsten Fall eine Drei. Die Schüler, die schlechte Noten gewohnt sind und dann eine relativ gute Note in Kunst bekommen, sind eher motiviert und bleiben dann auch bei der Stange. Diese Erfahrung habe ich gemacht und deshalb bin ich auch überzeugt davon, dass es richtig so ist."


Anita Goersch: "Es gibt ganz viel, was man nicht messen kann"

Anita Goersch (28) ist seit November 2010 Grundschullehrerin in Behle im Kreis Warendorf für evangelische Religion und Deutsch mit Mathematik als didaktischem Grundlagenfach. Sie unterrichtet aber auch Sachunterricht, Kunst und Sport in der Grundschule.

"Die Kinder in meiner zweiten Klasse sind jetzt so sieben, werden acht. Eigentlich ist es bei uns an der Schule so, dass die jetzt zum Ende des zweiten Schuljahres zum ersten Mal Noten bekommen sollen. Wir diskutieren das gerade im Kollegium, ob sich das ändern soll. Es wurde jetzt freigegeben, dass die Grundschulen selbst entscheiden können, ab wann die Kinder überhaupt Schulnoten bekommen sollen. (Foto links: privat)

Wir haben uns intern darüber ausgetauscht, und gerade im Team des zweiten Schuljahres sind wir uns relativ einig, dass wir es gut finden, wenn die Kinder in der ersten und zweiten Klasse komplett keine Noten bekommen. Bei mir in der Klasse ist es so, dass die Leistungsschere sehr weit auseinander geht. Da sind die klassischen Überfliegerkinder, denen vieles wirklich ganz leicht von der Hand geht, die wahnsinnig schnell und gut arbeiten. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Kindern, denen das alles sehr schwerfällt. Es sind trotzdem tolle Kinder, die aber viel mehr Elan und Energie reinstecken müssen, um zum gleichen Ergebnis zu kommen. Sie kommen aber mit Begeisterung in die Schule! Da finde ich es unglaublich schwierig, die dann mit den anderen in eine Kiste schmeißen zu müssen und zu bewerten.

Derzeit geben wir am Ende der zweiten Klasse entwicklungsbezogene Noten. So kann ein Kind, das verglichen mit dem allgemeinen Leistungsstand vielleicht eine Vier bekäme, eine bessere Note bekommen, weil an seiner eigenen Entwicklung gemessen wird. Das, finde ich, ist eine sinnvolle Sache. Danach werden die Noten tatsächlich leistungsbezogen vergeben, also im dritten und vierten Schuljahr, und damit tue ich mich sehr schwer.

Wenn ich Noten gebe, ist es mir sehr wichtig, dass ich die Kinder über einen längeren Zeitraum beobachte und das mitprotokolliere, damit ich nicht nur an einem Tag da sitze und denke: "Hm, was kriegt der jetzt für eine Note?" Ich finde das sehr schwierig. Eigentlich kann man die Kinder nicht mit so einer Note fassen. Mich erstaunt aber immer wieder, dass die Kinder eigentlich nach Noten verlangen. Die hätten gerne ein bisschen Wettkampf und eine Antwort darauf, wo sie eigentlich stehen.

Gerade im Reli-Unterricht Noten zu geben, finde ich persönlich ganz schrecklich. Man sieht natürlich die Beteiligung der Schüler - wie sieht die Mappe aus, können sie die Inhalte auf ihr Leben beziehen, wissen sie inhaltlich, was vermittelt wurde? Aber es gibt ja auch ganz viel, was man einfach nicht messen kann. Man kennt das selbst, dass man etwas hört, und das macht was mit einem, man behält es aber für sich. Weil es zu intim, zu privat ist, als dass man es nach außen mitteilen würde. Und ich glaube, so geht das Kindern auch, gerade bei Themen des Religionsunterrichts. Ich finde es teilweise schon fast anmaßend, zu sagen: "Naja, du hast dich nicht so toll beteiligt, das ist jetzt halt eine Drei." Ich weiß ja nicht, was der Unterricht mit dem Kind gemacht hat.

Ich fände es ganz gut, wenn die leistungsbezogenen Noten noch später beginnen würden. Aber ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass man mit der Meinung auf Lehrerseite ein bisschen alleine steht. Ich würde das zwar befürworten, aber bei Schülern und vor allem auch bei Eltern gibt es da großes Unverständnis. Da ist der Druck auf einige Kinder schon sehr früh recht hoch. Wir bemühen uns darum, den rauszunehmen, aber wir schaffen das nicht immer. Ich habe schon im ersten Schuljahr mitbekommen, dass Eltern sagen: "Ja, aber der muss doch, der soll mal aufs Gymnasium." Das ist noch so weit weg! Die Kinder sind so unterschiedlich in ihrer Entwicklung, und ich finde, das muss man einfach berücksichtigen."

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