Gauck war zu Gast im "Nachtschicht"-Gottesdienst im Stuttgarter Stadtteil Obertürkheim, der live im Internet übertragen wurde. Statt einer Predigt gab es ein Interview, an dessen Ende Nachtschicht-Pfarrer Ralf Vogel so fragte: "Machen Sie uns doch mal das Amt des Bundespräsidenten schmackhaft. Warum hätten Sie es gern gehabt?" Darauf Gauck: "Sie wollen wohl gerne Journalist werden." Und dann erzählt er, wie das war, als die Opposition ihn im Jahr 2010 fragte, ob er bereit sei, für das Amt zu kandidieren - gegen Christian Wulff.
"Als ich angerufen wurde, hatte ich zehn Jahre lang über Verantwortung gesprochen. Und über Freiheit." Das mag ein Grund gewesen sein für die Anfrage. Man könne dann wohl nicht sagen, das Amt sei zu anstrengend, meint Gauck, der vergangene Woche 72 Jahre alt geworden ist. Er habe so geantwortet: "Wenn ihr meint, dass ich das kann, dann sag' ich dazu Ja." Als Bundespräsident sei man eine Instanz, die nicht politisch Rücksicht nehmen müsse. Man dürfe auch mal seine Meinung ändern - wie der Christ Gustav Heinemann, den er als Vorbild nennt. Außerdem - und das sei "eigentlich das Schönste": Der Bundespräsident habe die Aufgabe, den Menschen Orientierung zu geben.
Am schlimmsten war "das Fehlen einer Perspektive"
Orientierung geben, das kann der Theologe Gauck allerdings auch so, wie er es jetzt tut: Mit Vorträgen, Lesungen aus seiner Autobiografie und Interviews wie diesem in der Andreaskirche in Obertürkheim. Zwar antwortet Joachim Gauck nicht immer exakt auf die Fragen von Ralf Vogel, aber immer so, dass seine Worte die Zuhörer packen und überzeugen. Es geht um "Politik und Macht" im Nachtschicht-Gottesdienst.
Nachtschicht-Pfarrer Ralf Vogel im Interview mit Joachim Gauck am Sonntagabend in Stuttgart-Obertürkheim. Foto: Birgit-Caroline Grill
Joachim Gauck lebte in der DDR und litt unter der Diktatur. Zu Beginn berichtet er von einem Familienausflug an die Ostsee, dort stand er am Meer, mit zweien seiner vier Kinder an den Händen. Die sahen eine Fähre und wollten mitfahren. "Nein, da dürfen nur Menschen aus dem Westen mitfahren." Die Kinder begriffen das nicht. Der Vater löste die Situation mit dem Hinweis, dass das Eis in Warnemünde besser schmecke als das in Dänemark. "Wir machten uns lebensfähig und hart", sagt er heute über diese Zeit der Unfreiheit.
"Was war im Alltag das Schlimmste?", fragt Pfarrer Ralf Vogel noch einmal nach. Gaucks Antwort: "Das völlige Fehlen einer Perspektive." Freiheit habe es nur in ihrer Sehnsucht, im allerprivatesten Bereich gegeben. Seinem Bruder wurde ohne Parteimitgliedschaft eine Karriere als Seemann verwehrt, seine Söhne, die nicht zur "Freien Deutschen Jugend" gehen wollten, durften kein Abitur machen und gingen deshalb 1987 in den Westen.
"Was kann denn passieren? Du wirst in die Hände Gottes fallen"
"Unsere Liebe zur Freiheit haben wir in unserer Kirche gepflegt", erzählt Gauck und geht auf die Jahreslosung für 2012 ein: "Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig - das habe ich dann irgendwann politisch erlebt. Dass Schwache zu Bürgern werden und handeln können und Werte wieder ins Leben rufen können, die schon ausgestorben schienen, das haben wir erlebt in Europa!" ruft der Pfarrer und Politiker Gauck den "Westlern" zu und erinnert sie in einem Atemzug daran, welch "ungeheurer Fortschritt" es sei, dass es ein Bundesverfassungsgericht gibt, wo jeder seine Grundrechte einklagen kann. "Da denkt keiner drüber nach!" regt er sich auf. Es braucht dafür die Perspektive eines ehemals Unterdrückten, der sich zeitlebens nach Freiheit sehnte.
Ob er Aufbrüche der Ohnmächtigen erlebt habe, wird Gauck gefragt. Er bringt den Begriff Wahrheit ins Spiel. "Man muss unterscheiden zwischen innerer und politischer Freiheit. Es lohnt sich, die Wahrheit zu leben, auch wenn wir damit noch nicht die Gesellschaft umgestalten können." Seine Beispiele: Die jungen Männer, die in der DDR die Schießübungen im Wehrkundeunterricht ablehnten und daraufhin nicht studieren durfte, oder die den Militärdienst komplett verweigerten und dafür im Gefängnis landeten.
"Wir haben immer eine Wahl", ist Gauck überzeugt. "Es gibt eine abgestufte Skala von Möglichkeiten. Manche überzeugen, weil sie die Menschen oder die Wahrheit lieben - das sind praktisch kleine Aufbrüche." An Václav Havel denkt er, den sie "eingeknastet, aber nicht kaputt gekriegt" haben. "Es gibt immer diese Kraft, dass wir nicht die da oben für die letzte Instanz halten." Fast unbemerkt schwenkt Joachim Gauck von der politischen Rede zur Predigt über: "Glaube bedeutet, dass da ein Kern in dir ist, der an deinem Herzen hängt. Dass du nicht so ängstlich bist. Was kann denn passieren? Du wirst in die Hände Gottes fallen."
Wähler sollten nachfragen: "Wie meint ihr das jetzt?"
Dann geht es noch einmal konkret um die Verteilung von Macht in der Politik - bei uns heute in Deutschland. Politiker seien normale Menschen, sagt Gauck. "Wir dürfen nicht dauernd die Supermänner und Superfrauen da oben erwarten." Manche würden halt abheben: "Eben waren die noch Kronprinz, und jetzt müssen sie im Ausland nach Arbeit Ausschau halten." Mit dieser Anspielung auf Karl-Theodor zu Guttenberg erntet Gauck den größten Lacher des Abends.
[listbox:title=Mehr Gottesdienst im Netz[Im nächsten Feierabend-Gottesdienst am 17. Februar 2012 werden der Arzt und Autor Dr. Eckart von Hirschhausen und der zweimalige Ironman-Hawaii-Sieger Norman Stadler zu Gast sein. Das Thema lautet "Ohnmächtige Körperwelten: Der Arzt und sein Patient." Es geht um die Erfahrung der eigenen körperlichen Grenzen und den Umgang der Ärzte mit ihren Patienten. Der Gottesdienst wird live auf www.kirchenfernsehen.de übertragen.]]
"Was wünschen Sie sich, das die, die die Macht haben, damit machen?" lautet die nächste Frage - und es muss erstmal klargestellt werden, wer gemeint ist: Die Wähler natürlich, das Volk ist der Souverän in der Demokratie. "Dass sie fragen: Wie meint ihr das jetzt?", rät Joachim Gauck. Gerhard Schröder habe seine Agenda-Politik nicht genügend erklärt, auch die Bundeswehr-Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan müsse man deutlicher erklären. Die Wähler müssten das einfordern bei den Politikern: "Erzähl uns mal, wir sind deine Wähler, wie hast du das eigentlich gemeint?"
Joachim Gauck, der politische Ratgeber, der die Freiheit Liebende, der begnadete Prediger - er hätte noch Stunden weiterreden können. Warum tut es so gut, ihm zuzuhören? Weil er authentisch ist, da er die Unfreiheit selbst erlitten hat. Und weil er uns daran erinnert, wie gut es uns geht in einem freien Land mit freien Wahlen und freien Medien. Es liegt in unserer Verantwortung, wie wir mit dieser Freiheit umgehen. Das ist - typisch Gauck - Politik und reformatorische Theologie in einem. Seine Rede ist immer Predigt, und sie kommt bei den Menschen an: Habt keine Angst. Die Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Dieser Artikel erschien erstmals am 30. Januar 2012 auf evangelisch.de.
Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.