Obwohl Weihnachten längst vorbei ist, drängen sich in Sankt Maria Lyskirchen in Köln noch immer Jung und Alt durch die heiligen Hallen der kleinen romanischen Kirche am Rhein. Der Besucheransturm hat seinen Grund: Es ist die Krippe der Gemeinde. Denn die ist nicht irgendeine, sondern eine der wohl außergewöhnlichsten überhaupt. Mit ihren Figuren holt sie die Weihnachtsgeschichte in das Milieu der der Stadt und erzählt dabei nicht nur von der Geburt Jesu Christi, sondern auch von verschieden Menschen und historischen Begebenheiten.
Die Idee der Kölner "Milieukrippe" entstand im Jahr 1982, als der damalige Pfarrer Kirsch die Weihnachtsgeschichte in die Zeit der 1930er Jahre verlegte und entsprechende Kulissen und Figuren anfertigen ließ. In Sankt Maria hat das Projekt bis heute Bestand, wurde weiterentwickelt und lockt inzwischen Gäste aus dem gesamten Bundesgebiet.
Zahlreiche neue Kulissen und Figuren sind seit der Entstehung hinzugekommen – von Künstlern eigens für die Kölner Milieukrippe gefertigt. Wer allerdings meint, er bekomme dort eine schöne Phantasiewelt zu sehen, der irrt. Die Krippe von Sankt Maria ist ein liebevoll aufbereitetes Stück Erinnerungskultur, das die Geschichten der Menschen und des Viertels bewahrt. Da ist zum Beispiel das mittelalterliche Haus "Zum Drachen", das an das alte Brauhaus gegenüber der Kirche Sankt Maria in Lyskirchen erinnert. Oder das inzwischen verloren gegangene Haus "An Lyskirchen 5".
Es ist eine unangenehme Realität, die sich dort widerspiegelt
Blickfang sind vor allem die handgefertigten Holzfiguren. Eine der wohl aufsehenerregendsten ist der Junkie. Immer wieder bleiben die Besucher vor der zusammengekauerten Figur im dunklen Kapuzenpullover und mit der Spritze am Arm stehen. Es ist eine unangenehme Realität, die sich dort widerspiegelt. Und doch ist der Abhängige inzwischen fester Bestandteil des Ensembles. Er soll nicht nur an die über 10.000 Drogensüchtigen der Stadt erinnern, sondern ein Zeichen setzen: "Wir wollen deutlich machen, dass Weihnachten für alle da ist", sagt Krippenbauer Benjamin Marx - auch für Menschen, die von der Gesellschaft ausgegrenzt werden.
An Ausgrenzung erinnert auch der jüdische Apotheker. Er lebte einst im Viertel. Mit seinen aufwändigen Recherchen hat Marx dafür gesorgt, dass dessen Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Wie er darauf gestoßen ist? "Ich habe im Stadtarchiv recherchiert oder einfach ältere Menschen befragt, die in der Gegend gewohnt haben. Manchmal wurden mir aber auch Begebenheiten zugetragen", erklärt er.
Erinnerung an eine Zeit der Ausgrenzung in Deutschland: Auch der jüdische Apotheker in der Krippe in St. Maria Lyskirchen findet in der Krippe Platz. Foto: Christin Otto
Bei der Gestaltung der Figuren überlässt der 57-jährige Marx nichts dem Zufall. Jedes Detail ist genau durchdacht. So fällt dem aufmerksamen Beobachter zum Beispiel auf, dass der Apotheker nicht nur einen gelben Davidstern, sondern auch ein Eisernes Kreuz trägt. "Jener Mann, der im Ersten Weltkrieg für sein Vaterland gekämpft hatte, wurde während des Nationalsozialismus aufgrund seiner jüdischen Abstammung diskriminiert und wanderte schließlich noch rechtzeitig nach Schweden aus", berichtet Marx.
"Es gibt zwar Nachahmer, doch in derselben Art gibt es keine andere"
In der Milieukrippe von Sankt Maria steht der Apotheker nunmehr seit acht Jahren. Als der Sohn des Apothekers von der Figur seines Vaters erfuhr, reiste er für eine Besichtigung eigens aus Schweden an. Und damit ist er mittlerweile einer von vielen. Gefragt nach den jährlichen Besucherzahlen, kann Marx lediglich schätzen: "Das dürften inzwischen Tausende sein."
Obwohl Weihnachten vorbei ist, drängeln sich die Menschen in der Kirche, um die Krippe zu betrachten. Foto: Christin Otto
Kein Wunder, denn die Kölner Milieukrippe ist deutschlandweit einzigartig. "Es gibt zwar Nachahmer, doch in derselben Art gibt es keine andere", sagt Marx. Seit über 15 Jahren liegt die Verantwortung für die Krippe von Sankt Maria in seinen Händen. Und diese Arbeit gleicht " manchmal einem Vollzeitjob, sagt er.
Jedes Jahr – immer zum ersten Advent – inszeniert er die inzwischen 35 verschiedenen Holzfiguren neu – und das nicht nur einmal. "Die Aufstellung wird während der Weihnachtszeit immer wieder verändert – passend zum biblischen Kontext", erklärt Marx. Dabei lässt sich der ehrenamtliche Krippenbauer gerne von den Reaktionen der Besucher inspirieren. "Ich setze mich öfter mal auf eine der Kirchenbänke und lausche dem, was die Menschen beim Beobachten der Krippe so sagen. Dann kommt mir die eine oder andere neue Idee."
"Die neue Figur wird den Fremden in unserem Land gewidmet sein"
Dass viele Menschen jedes Jahr wieder kommen, liegt sicherlich nicht zuletzt daran, dass sich das Figuren-Repertoire stetig erweitert. Auch diesmal durfte Marx eine neue hinzufügen. Der Hintergrund war allerdings ein trauriger. Bei der Figur handelt es sich um Küsterin Maria Brecht. Zehn Jahre lang hatte die Opernsängerin ihr Leben der Gemeinde von Sankt Maria in Lyskirchen gewidmet und bei der Inszenierung der Krippe entscheidend mitgewirkt, bis sie an Karfreitag im Alter von 72 Jahren starb. Nun lebt die Erinnerung an sie in der Krippe weiter.
Das Jesuskind mit Maria und Josef, aber neben dem Stall gibt es auch die Narren des Karnevals zu sehen. Foto: Christin Otto
Auch 2012 – so viel verrät Marx schon – wird es eine neue Holzfigur und damit auch ein weiteres Stück Erinnerungskultur geben. "Die neue Figur wird den Fremden in unserem Land gewidmet sein, die aufgrund von Vorurteilen in unserer Gesellschaft diskriminiert und ausgegrenzt werden", erklärt er. Ein Roma-Mädchen soll es werden.
Doch bevor das seinen Platz in der Milieukrippe bekommt, wandern der "üdische Apotheker, der Junkie, das "Tanzpaar der Hellige Knäächte un Mägde", der "Ringroller", der Matrose, der Verkündungsengel, das "Kinder Jeckebääntche", der Leyendecker, die Wäscherin, der Engel Gabriel, Prophet Jesaja, Josef, Maria, das Jesuskind und all die anderen Holzfiguren erst einmal wieder zurück an ihren Aufbewahrungsort. Dort werden sie dann ab dem 3. Februar sorgsam verstaut – bis zum nächsten ersten Advent.
Christin Otto ist freie Journalistin aus Köln.