Die Menschen auf dem klapprigen weiß-roten Fischerboot waren verzweifelt. Sie wären gerne in Libyen geblieben, sagten einige. Dort sei das Leben besser gewesen als in ihren Heimatländern: Somalia, Eritrea, Sudan. Doch dann hätten die blutigen Unruhen in Libyen begonnen. Und damit eine neue Flucht, neue Ungewissheit.
Zumindest hatten die Bootsflüchtlinge Glück im Unglück. Die gefährliche Überfahrt von Nordafrika nach Italien im April 2011 gelang. In der Nähe der Insel Lampedusa griff die Küstenwache sie auf. Die Migranten wurden nach ihrer Herkunft befragt und verwandelten sich in statistische Größen: in einen Teil der rund 25.500 irregulären Einwanderer aus Afrika, die Italien im zweiten Quartal 2011 registrierte.
"Die Migrantenzahlen im Mittelmeerraum waren 2011 erhöht, aber letztlich hielten sie sich in Grenzen", sagt Doris Peschke, Generalsekretärin der Flüchtlingsorganisation "Kommission der Kirchen für Migranten" in Brüssel. Die Umbrüche in der arabischen Welt hatten Wanderbewegungen zur Folge: in erster Linie in die Region selbst, zu einem kleineren Teil nach Europa. Lampedusa, Sizilien, Malta hießen wichtige europäische Ziele.
2011 gab es mehr als 2.000 Opfer an den Seegrenzen im Mittelmeer
Die erschreckende Statistik aber, sagt Peschke, sei die der Todesopfer. In der Vergangenheit waren jedes Jahr ungefähr 1.000 Menschen ums Leben gekommen, die versucht hatten, illegal eine europäische Außengrenze zu überqueren. In diesem Jahr haben die Flüchtlingsexperten Kenntnis von mehr als 2.000 Opfer - alleine an den Seegrenzen im Mittelmeer. Die Menschen wagten aus unterschiedlichen Gründen die riskante Fahrt. Im ersten Quartal 2011 kamen in Italien rund 20.000 Tunesier an, die auf Arbeit in Europa hofften. "Eine Gruppe arbeitslose Akademiker", liest man etwa in einem Fallbericht der EU-Grenzschutzagentur Frontex. "Sie haben für 2.000 Euro ein vier Meter langes Fischerboot gekauft, das mit Treibstoff, Zigaretten, Brot und Wasser ausgestattet war."
Doch Europa empfängt irreguläre Wirtschaftsmigranten nicht mit offenen Armen. Italien schloss mit Tunesien ein Abkommen, das mehr Grenzpatrouillen und schnellere Abschiebungen vorsah. Details blieben geheim. Daraufhin ebbte der Migrantenstrom ab. Die Migrantenzahlen im Mittelmeerraum stiegen aber weiter: Es kamen jetzt immer mehr Menschen aus Libyen.
Unter ihnen befanden sich viele Personen mit echten Chancen auf politisches Asyl oder ähnlichen Schutz. Viele stammten ursprünglich aus Krisenländern wie Somalia und Eritrea. "In Libyen gab es eine regelrechte Hetzjagd auf sie", berichtet Melita Sunjic, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Gaddafi-Treue und Aufständische beschuldigten die Subsahara-Afrikaner, jeweils auf der anderen Seite zu stehen.
In Lagern in Ägypten und Tunesien sitzen immer noch Flüchtlinge fest
Auch nach dem Ende des Gaddafi-Regimes sind viele der Menschen in Not. In grenznahen Lagern in Ägypten und Tunesien sitzen immer noch Flüchtlinge fest. Das UNHCR sucht händeringend nach über 5.000 Aufnahmeplätzen. Die europäischen Länder haben bisher nur knapp 700 Flüchtlingen aus den Lagern Schutz gewährt. Deutschland hat kürzlich Aufnahmen zugesagt. Doch Europa müsse noch mehr Solidarität zeigen, sagt die Flüchtlingsexpertin Peschke. Die Staaten müssten nicht nur in den Krisenregionen selbst helfen, sondern sich auch gegenseitig Lasten abnehmen. Scharf kritisiert Peschke auch die aktuelle Debatte um die Wiedereinführung von Kontrollen an den EU-Binnengrenzen.
Positiv sieht sie dagegen, dass die EU-Kommission für die nordafrikanischen Länder politische Konzepte entwickelt, die die verschiedenen Formen der Migration berücksichtigen. Die Behörde versucht, die Wirtschaft vor Ort zu stärken, um für die Menschen neue Perspektiven zu schaffen. Und sie will neue Wege der legalen, kontrollierten Arbeitsmigration nach Europa eröffnen.
"Für uns ist das der richtige Grundgedanke. Nun müssen die EU-Regierungen am selben Strang ziehen", sagt Peschke. Keinesfalls aber dürften die Programme gegen aktuell nötigen Flüchtlingsschutz ausgespielt werden, unterstreicht sie - insbesondere nicht gegen die Rettung von Menschenleben.