In ihrem neuen Roman erzählt die Düsseldorfer Autorin vom Vorabend des Hereroaufstandes und von einer ungewöhnlichen Liebe. Wenn dieser Roman ein Film wäre, würde er sicher in der Kategorie Road Movie landen. Auch wenn er im Jahr 1900 spielt, als noch kein Cabrio über sauber asphaltierte Straßen jagte. Aber das macht nichts. Denn die Hauptfigur Henrietta ist auch so immer unterwegs. Und immer dabei, um ihre Emanzipation und Freiheit zu kämpfen. Kein leichtes Unterfangen für eine 17-jährige Halbwaise aus der verarmten Kohlstraße in Elberfeld, wo die Menschen von einem gestrengen Pfarrer regiert werden.
Henrietta bleibt trotzdem aufmüpfig und neugierig und entwickelt sich so vom naiven Teenager zur selbstbewussten jungen Frau, die am Ende gelernt hat, ihr Leben zu gestalten. Auch wenn sie dabei buchstäblich über Stock und Stein stolpert und auf ihrer Tour durch die Wildnis Namibias nur knapp dem Tod entkommt.
Dieses literarische Road Movie ist eine Zeitreise, die uns gut 100 Jahre zurück ins koloniale südliche Afrika beamt, damals noch Deutsch-Südwest und das Kapland. Gleichzeitig wirft sie als Auswanderergeschichte ein kritisches Licht auf die Rolle deutscher Siedler und der Elberfelder Mission, die hier ihre Missionsstationen hatte – eine teils enge Verknüpfung von Mission und Kolonialismus.
Aus der Vergangenheit lernen
Auch der 1904 beginnende Aufstand der Nama und Herero gegen die deutsche Gewaltherrschaft klingt im Roman an, der schließlich zu einem Völkermord führte. „Das ist nicht wieder gut zu machen, aber wir müssen aus der Vergangenheit lernen“, sagt Gina Mayer, die 2010 in Namibia war, um für ihr Buch zu recherchieren und ihre Orte und Figuren lebendig werden zu lassen.
Keine Fiktion: Wie sehr die Ereignisse in Namibia noch präsent und schmerzlich sind, hat gerade erst eine Delegation von traditionellen Führern, hohen Regierungsvertretern und Kirchenleuten erfahren, als sie im Herbst in Berlin war, um die ersten 20 von mehreren 100 Schädeln in deutschen Museen aus der Zeit des Völkermordes nach Hause zu holen und zu bestatten. Bei der Übergabe kam es zum Eklat, denn es kamen keine gleichrangigen deutschen Regierungsvertreter.
Verantwortung für Verbrechen der Kolonialzeit
Noch immer warten die Nachkommen der Nama und Herero auf eine offizielle Entschuldigung. Die Vereinte Evangelische Mission (VEM) hat bereits 1990 ein Schuldbekenntnis abgelegt und sich als Kirche und Mission mitverantwortlich für die Verbrechen der Kolonialzeit erklärt. Im Roman erklärt der junge Nama Petrus Henrietta die Regeln der kolonialen Welt so: „Die einen sagen, Kaffern sind wie Tiere, man kann sie schlagen und treten. Und die anderen sagen, die Schwarzen sind arme Schweine, man muss sie bekehren, damit sie in den Himmel kommen.“
Die beiden verlieben sich und flüchten mit dem Ochsenkarren und zu Fuß von der Missionsstation in Bethanien. Denn Henriettas kraftloseMutter ist kurz nach der Heirat mit dem engstirnigen Missionar Freudenreich gestorben. Enge, Eintönigkeit und Bevormundung sind der 17-jährigen Erzählerin und Hauptfigur verhasst, ebenso Rassismus und Gewalt. So gesehen ist sie eher eine moderne Jugendliche von heute, Kollisionen sind vorhersehbar und unvermeidbar. Aber auch spannend zu lesen – die Zeit von damals mit einer Portion Political Correctness von heute. Ungeachtet dessen, dass Historiker fordern, jede Zeit aus ihrem eigenen Kontext zu verstehen.
In den VEM-Archiven gestöbert
Auch hier hat Autorin Gina Mayer wie schon in ihrem ersten Roman 2006 über die Kaiserswerther Diakonie sorgfältig recherchiert, etwa in der Wuppertaler Kohlstraße, wo sie am 13. November in der Kirche eine Lesung halten wird. Vor allem aber hat sie die Archive der VEM in Wuppertal mit den Dokumenten der Elberfelder Mission studiert. „Es ist beeindruckend, was man da alles findet“, erzählt die 45-jährige.
Hier hat sie aus zahlreichen Briefen und Berichten das Leben auf den Missionsstationen rekonstruiert und ihre Charaktere entworfen, vom verhärteten Missionar Freudenreich bis hin zum aufgeschlossenen Missionar Cordes und seiner Familie im südafrikanischen Wupperthal, die Henrietta schließlich die ersehnte Perspektive bieten – eine Ausbildung zur Lehrerin.
Ein Happy End trotz allem
All das spielt sich im Buch wie im Zeitraffer in weniger als einem Jahr ab, ein paar mehr Jahre wären realistischer gewesen. Viele andere Details und Ereignisse dagegen sind anschaulich und nachvollziehbar: Henriettas Aufenthalt im Kraal von Petrus Familie etwa, wo sie sich anfangs versteckt, ohne je heimisch zu werden. Aber auch die unausgesprochene Liebe zwischen den beiden, die noch nicht ins Jahr 1900 passt.
Ein Happy End gibt es trotzdem – aber anders als gedacht. Und viele theologische Fragen klingen immer wieder an: von Schuld und Vergebung und dem Sinn des Lebens. Ein spannendes Buch, das die kurze Kolonialzeit aus dem deutschen Vergessen holt. Und manches Klischee zurecht rückt.
Gina Mayer: Die Wildnis in mir. Thienemann Verlag, Stuttgart/Wien 2011, Hardcover, 330 Seiten, 16,95 Euro
Lesungen aus „Die Wildnis in mir“:
13. November, 17 Uhr , Philippuskirche, Kolhlstraße 150, 42109 Wuppertal
14. November, 10 Uhr, Stadtbücherei Düsseldorf-Bilk, Friedrichstraße 127, 40200 Düsseldorf