Das Bundesverfassungsgericht argumentiert nicht grundsätzlich gegen eine solche "Hürde", die Parteien mit geringem Stimmanteil den Einzug in ein Parlament verbietet. Gegner der Sperrklausel sind also gut beraten, die Urteilsbegründung zu lesen, bevor sie Analogieschlüsse auf das Wahlrecht für Bundestags- und Landtagswahlen ziehen. Dort hat die Klausel ihre Berechtigung, auch das hat das Gericht deutlich gemacht. In Brüssel hingegen wird sich nach dem Urteil kaum etwas verändern. Man kann sagen: leider.
Die Karlsruher Richter bestätigen, dass eine Sperrklausel faktisch die Chancen von Klein- und Kleinstparteien gegenüber großen Partien schmälert, mit ihren Kandidaten ein Mandat in einem Parlament zu erreichen. Diese Ungleichbehandlung verstößt gegen den Verfassungsgrundsatz der Chancengleichheit der Parteien und sorgt dafür, dass ein Teil der Wählerstimmen sich nicht in den parlamentarischen Kräften widerspiegelt. Das deutsche Wahlrecht hat diesen Konflikt bisher in Kauf genommen und wird dies auch nach dem Urteil in Bund und Ländern tun. Aus gutem Grund.
Ein zersplittertes Parlament ist handlungsunfähig
Die Aufgabe der Parlamente besteht nicht nur darin, den Wählerwillen möglichst deutlich abzubilden, sondern es ist auch beauftragt, eine Regierung zu wählen und diese in ihren politischen Vorhaben mit der Mehrheit der regierungsbildenden Fraktionen zu unterstützen. Die Sperrklausel sorgt dafür, dass eine Zersplitterung des Parlamentes in viele kleine Fraktionen verhindert wird und die Bildung von stabilen Regierungsmehrheiten mit einer überschaubaren Zahl an Fraktionen möglich bleibt.
Im Europaparlament hingegen ist die Zahl der dort vertretenen Parteien inzwischen alles andere als überschaubar. Bei aktuell 162 in Brüssel vertretenen Parteien konnte auch eine Sperrklausel für Kleinparteien nicht mehr viel ausrichten. Bei der Wahl zum letzten Europaparlament 2009 scheiterten sieben Parteien an der nur in Deutschland gültigen Hürde. Angesichts des real existierenden Klein-Klein in Brüssel kann das Gericht in der nur für deutsche Parteien gültigen Klausel keine stabilisierende Auswirkung für das Parlament erkennen. Hinzu kommt, dass das Brüsseler Parlament keine Regierung wählt, und so die Herstellung von Stabilität auch nicht seine vorrangige Aufgabe ist, so die Urteilsbegründung.
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Die Fünf-Prozent-Klausel bewirkt unter den gegebenen Umständen auf europäischer Ebene nichts, außer einer Benachteiligung kleiner Parteien. Sie haben nicht nur geringere Chancen gegenüber den Großparteien in Deutschland haben, sondern sind auch gegenüber ihren politischen Mitbewerbern in den europäischen Nachbarländern benachteiligt, die keine Sperrklausel eingeführt haben. Vor allem an dieser Tatsache hatte sich Kläger von Arnim gestoßen und kann nun zufrieden sein. Doch wirklich geholfen ist damit niemandem.
Kapitulation vor den Brüsseler Verhältnissen
Tatsächlich kann man das Urteil auch als Kapitulation des Bundesverfassungsgerichtes vor den Brüsseler Verhältnissen begreifen. Es macht einerseits erneut deutlich, dass eine Sperrklausel auf die Demokratie stabilisierend wirkt und erklärt sie für die Europawahl gleichzeitig für verfassungswidrig, weil hier Stabilität ohnehin nicht mehr erreichbar, vor allem aber nicht notwendig erscheint.
Wo die Defizite liegen, wird überdeutlich: Europas Demokratie muss nicht stabilisiert werden, weil sie nicht wirklich eine ist. Zwar hat das Parlament in der Vergangenheit einige Kompetenzen hinzugewonnen, doch auf einen wirklichen Quantensprung in der Demokratisierung der europäischen Institutionen warten Befürworter der Integration schon länger vergeblich. Soll es demnächst wie vielfach gefordert, eine europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik geben, dann muss diese durch das Parlament demokratisch legitimiert sein.
Ob sich die hierfür notwendigen Mehrheiten unter der gegebenen Fraktionierung des Parlamentes wird erreich lassen, ist fraglich. Deshalb muss ein erster Schritt auf dem Weg zu mehr Demokratie in Europa eine Vereinheitlichung des europäischen Wahlrechts sein. Der deutsche Sonderweg mit Sperrklausel war grundsätzlich richtig, macht aber nur dann wirklich Sinn, wenn er kein Sonderweg ist. Eine Hürde für Kleinparteien muss in allen europäischen Staaten gleichermaßen gelten. Im Idealfall wird diese durch das Parlament festgelegt. Das dürfte ein hartes Stück Arbeit werden – egal ob mit oder ohne deutsche Kleinparteien.
Nathalie Golla ist Parteienforscherin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.