In Deutschland ist der Militäreinsatz in Afghanistan politisch umstritten. Wie sehen die Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan ihren Einsatz?
Andreas Wittkopf: Ich habe es so erlebt, dass die politische Diskussion, die in Deutschland geführt wird, im Einsatz keine große Rolle spielt. Soldaten und Soldatinnen in Afghanistan tun ihren Dienst. Das Spektrum der Meinungen zu diesem Einsatz ist dem hier in Deutschland durchaus vergleichbar. Aber sie können sich für gewöhnlich nicht aussuchen, ob sie dort hingehen oder nicht. Das Parlament beschließt, die Bundeswehr geht. Umso wichtiger ist für die Soldaten und Soldatinnen die Unterstützung aus Deutschland. Die Bundeswehr ist schließlich nicht für die politische Begründung des Einsatzes verantwortlich, auch nicht dafür, dem Einsatz selbst einen Sinn zu geben. Trotzdem wird die Sinnfrage gestellt. Da ist es gut - so erlebte ich das -, dass es im Einsatz unabhängige und nicht der Hierarchie eingegliederte Gesprächspartner gibt, wie in der Militärseelsorge.
Die evangelische Kirche beurteilt den Afghanistan-Einsatz unterschiedlich – wäre eine eindeutige Positionierung der Kirche auch für Sie als Seelsorger wichtig?
Wittkopf: Nein. Es zeichnet ja gerade die evangelische Kirche aus, dass hier nicht "von oben herab" eine Meinung verkündet wird, die alle zu teilen haben. Ich finde die lebendigen und offenen Diskussionen, wie sie in den evangelischen Kirchen geführt werden, den deutlich besseren Weg. Daher bin ich auch gerne evangelisch.
Ist Friedensethik ein wichtiges Thema bei Ihren Gesprächen oder geht es mehr um die Bewältigung des Alltages in einem durchaus gefährlichen Einsatz?
Wittkopf: Ich habe es noch nie erlebt, dass Soldaten und Soldatinnen von sich aus mit einer dezidiert friedensethischen Fragestellung zu mir kommen. Das persönliche Erleben und die persönlichen Fragen und Probleme wie Beziehungsprobleme, Trennung von Zuhause, Themen, die das Zusammenleben im Einsatz betreffen, Internetprobleme, die die Kommunikation nach Hause betreffen, ein schlechtes Telefongespräch mit der Freundin, Trennung, Streit, Versetzungsfragen, die aus dem Einsatz heraus gelöst werden müssen, die Gefahr, draußen angesprengt zu werden oder einfach Fragen zum Leben, stehen im Vordergrund. Friedensethische Fragestellungen kann man aber durchaus auch im Einsatz in die Diskussion einbringen. Ich persönlich habe das nicht gemacht, weil mir einfach die Zeit dazu fehlte. Ich priorisiere in meiner Arbeit eher den Gottesdienst - in etwas mehr als vier Monaten an unterschiedlichen Einsatzorten habe ich rund 60 bis 70 Gottesdienste gehalten -, die musikalische Gestaltung und die Predigtarbeit, dazu die Kontaktpflege und die alltäglichen Gespräche.
Mit Soldaten über
das Leben reden
Werden Menschen in Grenzsituationen offener für eine religiöse Dimension des Lebens?
Andreas Wittkopf: Ja, eindeutig. Der Ausgangspunkt für meine ersten Taufunterrichte und meine erste Einsatztaufe waren verschiedene Gefahrensituationen, denen die Soldaten ausgesetzt waren. Das Gespräch begann damals etwa so: "Herr Pfarrer, kann ich mit ihnen mal über's Leben reden?" Es ging letztlich darum, wohin "das Leben und das alles" einmal führt. Im Gottesdienst sind Soldaten und Soldatinnen verschiedener Konfession und auch - im Vergleich zu Deutschland - relativ viele Ungetaufte. Auch den einen oder anderen Muslim erlebte ich als Teilnehmer von Gottesdiensten.
Was erwarten Soldatinnen und Soldaten von Ihnen als Militärseelsorger?
Andreas Wittkopf: Zunächst erwarten sie wohl, dass man einfach da ist. Ansonsten geht es darum, mit ihnen ersteinmal warm zu werden, präsent zu sein. Sie müssen sehen, dass man neutral und ansprechbar ist. Wenn was passiert, erwarten sie, dass wir mit der Lage klar kommen und ehrliche Anregungen zu Antworten auf die Sinnfrage. Vor allem erwarten sie, dass wir erstmal zuhören können und: dass wir als Militärseelsorger "anders" sind. Aber was sie im einzelnen ganz konkret erwarten, ich glaube, da gibt es viele Antworten im Spektrum von "gar nichts" bis "alles", was die Soldaten und Soldatinnen einem auch ehrlich sagen, wenn man sie fragt.
Es gibt welche, die mir gesagt haben, dass sie die Militärseelsorge für überflüssig halten. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass das viele denken. Eher im Gegenteil: Wir sind die einzigen "Unabhängigen" und daher für die meisten wohl unverzichtbarer Bestandteil der Kontingente. Ich denke, dass das die militärische Führung ähnlich sieht. Die Kontakte in diese Richtung waren zu hundert Prozent positiv und man versuchte, meine Arbeit so gut es geht zu unterstützen - auch über das hinaus, was man vielleicht erwarten würde.
Welche Chance hat die evangelische Militärseelsorge? Was würde fehlen, gäbe es keine Militärseelsorge?
Wittkopf: Das ist einfach auf den Punkt gebracht und gilt zu Hause und im Einsatz: Wir haben es zum großen Teil mit Menschen zu tun, die im Alltag keinen Kontakt zur Kirche haben, nämlich hauptsächlich junge Männer verschiedener oder gar keiner Konfession im Alter zwischen etwa 20 und 40 Jahren. Wenn es die Militärseelsorge nicht gäbe, gäbe es einen Teil gewährter und gelebter Freiheit nicht. Dann gäbe es in der Bundeswehr nur noch die Hierarchie. Der neutrale, freie Raum - ich nenne das mal "Narrenfreiheit" - wäre weg.
"Ich gehe auch nicht
im Talar auf eine
Anti-AKW-Kundgebung"
Ist es möglich, den Afghanistan-Einsatz kritisch zu sehen und dennoch glaubwürdig Seelsorge unter den Soldatinnen und Soldaten zu leisten?
Wittkopf: Es ist möglich. Ich gehe als Seelsorger in den Einsatz, um meine dortige "Gemeinde auf Zeit" zu begleiten, nicht weil ich von dem Sinn dieses oder jenes Einsatzes überzeugt bin. Ich spiele mal mit der Frage: Ist es möglich, CDU-Positionen nahe zu stehen und dennoch einen SPD-Bürgermeister als Freund zu haben? Und: Es gibt genug Soldaten und Soldatinnen, die den Einsatz mehr als nur kritisch sehen. Was mache ich mit denen, wenn ich vom Einsatz überzeugt bin? Sie vom Gegenteil überzeugen? Ich denke: Das wäre eher die Aufgabe von Politoffizieren. Ich habe gelernt, Menschen unterschiedlichster Einstellungen erstmal als Menschen zu sehen. Und dass sie ein Recht auf ihre freie Meinung haben, steht für mich außer Zweifel - was übrigens auch für Militärseelsorger gilt. Ich habe es erlebt, dass man auch im Einsatz Kritisches laut sagen darf - und dass das auch gehört wird. Ich hatte in keiner Sekunde den Eindruck, dass die Freiheit der Verkündigung irgendwie eingeschränkt wäre.
Es wäre allerdings auch kontraproduktiv, "von der Kanzel herab" permanent davon zu reden, dass man den Einsatz unsinnig findet. Ich denke, das wäre Missbrauch des kirchlichen Amtes. Ich gehe auch nicht im Talar auf eine Anti-AKW-Kundgebung. Ich glaube, ich wäre nicht glaubwürdig, würde ich unkritisch die offizielle politische Version unterstützen. Da würde mir auch bald keiner mehr zuhören. Wir haben bei der Militärseelsorge das gute Wort von der "kritischen Solidarität mit der Bundeswehr". Ich erinnere nochmal daran: Dafür, dass die Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz ist, ist unser gewähltes Parlament verantwortlich - im übrigen mit allen Konsequenzen - und nicht die Bundeswehr.
Hat Sie der Afghanistan-Einsatz auch persönlich verändert?
Wittkopf: Ja. Ich bin - so empfinde ich das - reifer geworden - und dankbarer für all das, was wir hier Alltag nennen.
"Friedensethik in der Bewährung – Afghanistan-Einsatz, Militärseelsorge und mehr…." ist das Thema des Monats November. Dort sind auch Kommentare möglich.
Andreas Wittkopf, verheiratet, drei Kinder, ist im sechsten Jahr als Militärpfarrer in Schwanewede mit Zuständigkeit für Bremen, Bremervörde und Cuxhaven tätig