Herr Rahr, Sie kennen Russland sehr gut. Ich nehme an, die erneute Kandidatur Putins für die Präsidentschaft hat Sie wenig überrascht.
Alexander Rahr: Die hat mich überhaupt nicht überrascht. Putin hat ja als Premierminister das Land nicht nur mitregiert, sondern wahrscheinlich an erster Stelle regiert. Medwedew, der Präsident, war eigentlich nur ein Statthalter Putins, der ja, um die Verfassung nicht zu brechen, kein drittes Mal hintereinander kandidieren durfte. Jetzt, nachdem Medwedew vier Jahre lang Präsident war, kann Putin wieder zurück in sein angestammtes Präsidialamt. Das alles kann man im Westen ein abgekartetes Spiel nennen - ich sage, das ist gelenkte Demokratie. Die Verfassung ist nicht gebrochen worden. Wir werden damit umgehen und leben müssen. Putin bleibt uns jetzt für die nächsten sechs Jahre als Ansprechpartner erhalten.
Artikel 3 Absatz 4 der Verfassung lautet: "Niemand darf die Macht in der Rußländischen Föderation an sich reißen…." Reißt Putin nicht die Macht an sich?
Alexander Rahr: Naja, das was jetzt auf dem Parteitag von "Einheitliches Russland" passiert ist, ist eine interne Parteiangelegenheit. Dass Putin sich jetzt wieder aufstellen lässt als Präsidentschaftskandidat ist sein gutes Recht, und wenn die Partei das so absegnet, wie sie es getan hat, ist das auch das Recht der Partei. Das Problem liegt ja woanders. Das Problem liegt bei den eigentlichen Präsidentschaftswahlen, die am 4. März 2012 stattfinden, die nach der Verfassung frei und fair ablaufen müssen.
Die Gegenkandidaten werden genug Möglichkeiten haben, im Fernsehen ihre Standpunkte darzustellen. Bloß wird natürlich auch in den nächsten sechs Monaten - wie jedes Mal vor Wahlen in Russland - der Kandidat der Macht bevorzugt in den Medien behandelt. Der Bevölkerung wird von Seiten der Massenmedien, von denen viele unter staatlicher Kontrolle stehen, suggeriert, dass der Kandidat der Macht das beste für Russland sei und dass es keine Alternativen zu ihm gebe. Die Wahlen finden in Russland frei statt, aber nicht fair.
Was denken Sie: Zu wie viel Prozent werden die Menschen Putin wählen?
Alexander Rahr: Der Westen versteht eines nicht: In Russland ist Putin noch populär, weil man ihm zutiefst dankbar dafür ist, dass er das Land 2001/2002 wieder gefestigt hat nach den ökonomischen Katastrophen, nach den politischen Wirren der neunziger Jahre, als praktisch jede Familie bis auf wenige Ausnahmen in Russland von einer Wirtschaftskrise in die andere schlitterte und ihr angesammeltes Vermögen verloren hat. In den neunziger Jahren gab es in Russland nicht diese Stabilität wie jetzt, und das wird von den meisten Menschen als wichtige Perspektive wahrgenommen, wofür sie Putin wählen.
"Das reicht alles nicht, aber man konnte von ihm
ja auch keine Wunderdinge erwarten"
Aber ich möchte auch den Zusatz nicht vergessen: Der Nimbus Putins wird noch fünf/sechs Jahre so dauern, er kann von dieser Sympathiewelle zehren, aber es muss mehr tun als sich auf den Lorbeeren ausruhen. Er muss den Menschen jetzt Freiheiten zurückgeben, die ihnen in den letzten zehn Jahren genommen wurden. Er muss Russland modernisieren und öffnen, er muss Russland in die globale Wirtschaft integrieren, er muss wegkommen von der Abhängigkeit von Öl und Gas, er muss kurzum auch das politische System umbauen.
Es hieß ja, dass Medwedew "moderner" sei. Sie haben in Ihrem neuen Buch geschrieben, dass er "für größere Freiheiten und einen besser funktionierenden Rechtsstaat" eintritt. Was haben die Menschen in Russland in den letzten sechs Jahren davon gemerkt?
Alexander Rahr: Also sie haben schon was davon gemerkt. Heute wird in den westlichen Medien über Medwedew geschimpft, er gilt als Verräter, man sagt, er hätte gar nichts getan. Ich denke, man muss genauer hinschauen. Zwei Dinge sind hier wichtig zu sagen. Erstens: Geben wir ihm eine Chance, als Premierminister diese liberalen Reformen in der Wirtschaft zügiger voranzubringen als ihm das aus dem Kreml heraus möglich war.
Und der zweite Aspekt ist: Man muss akzeptieren, dass Medwedew auch in Fragen der Rechtssicherheit viele Schritte getan hat, um Gesetze zu verändern - harte stalinistische Gesetze, die teilweise noch aus der Sowjetunion stammen hat er doch dahingehen verändert, dass gewisse persönliche Freiheiten jetzt stärker im Vordergrund stehen als noch vor wenigen Jahren. Er kämpft gegen die Korruption. Einige Mordfälle sind aufgedeckt worden - nicht alle. Viele korrupte Richter sind mit Schimpf und Schande aus ihren Ämtern gejagt worden, viele korrupte Gouverneure sind in die Wüste geschickt worden. Das reicht alles nicht, aber man konnte von ihm ja auch keine Wunderdinge erwarten.
Sie gehen bei Ihrer Betrachtung von einem größeren zeitlichen Rahmen aus: Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind erst 20 Jahre vergangen. Wie weit ist Russland auf dem Weg zu einer freiheitlichen demokratischen und pluralistischen Gesellschaftsordnung, wie wir sie im Westen kennen, bisher vorangeschritten?
Alexander Rahr: Ich würde sagen: Zwei Schritte vor, einen Schritt zurück. Es wäre wirklich ein Wunder gewesen, wenn Russland den Weg aus achtzig Jahren Kommunismus so gemacht hätte wie Tschechien und Polen. Das ging mit der Mentalität der Bevölkerung nicht, auch mit den Traditionen, mit dem kommunistischen Gepäck, das man mit sich rumschleppt. Ich glaube, es war naiv von uns zu glauben, dass Russland von einem Tag auf den andern eine Demokratie werden kann. Russland ist in den neunziger Jahren nicht zur Demokratie gekommen und jetzt muss man einfach akzeptieren, dass eine Phase eintrat, wo die Leute Stabilität sehen wollten.
Russland muss seine eigene Demokratie entwickeln, aber jedenfalls weg aus diesem totalitären Erbe. Es ist noch nicht alles so wie im Westen, aber Sie haben Recht: Diese Perspektive der 20 Jahre ist doch bedeutsam. Russland ist nicht stehen geblieben, sondern geht einen sehr schwierigen Transformationsweg, an dessen Ende - da bin ich sicher -Europa steht. Sie werden in Europa ankommen, weil sie keine andere Wahl haben.
Wie ist es denn in Russland um die Religionsfreiheit bestellt? Die meisten Menschen sind ja orthodoxe Christen. Können sich zum Beispiel auch freie evangelische Gemeinden ungehindert ausbreiten?
Alexander Rahr: Zu begrüßen ist, dass Russland sehr schnell zum Glauben zurückgefunden hat. Es ist schon beachtlich, dass Sie nach 80 Jahren Kommunismus heute in keiner Zeitung in keiner Fernsehsendung heute atheistische Ansichten hören. Es wird wehr viel über Glauben gesprochen, jeder identifiziert sich mit dem Glauben, die russischen Politiker pilgern alle auf den Athos oder nach Jerusalem zu großen Feiertagen, zeigen sich in der Kirche und unterstützen die Erneuerung der russisch orthodoxen Kirche.
"Russland ist nicht daran interessiert,
dass sich die westlichen Kirchen ausbreiten"
Wenn sie in die Provinzen fahren, sehen sie, dass es den Kirchen dort relativ gut geht. Die Gemeinden leben wieder auf und das ist die Art der Zivilgesellschaft, wie sie in Russland heute entsteht: teilweise - nicht nur - über Kirchenorganisationen, die auch soziale Dienste übernehmen und für Arme sorgen. Was für Russland nicht gilt, ist diese Toleranz. Die russische Orthodoxie sieht sich als nationalen Gedanken. Die orthodoxe Kirche sieht sich auch in der Verantwortung, den russischen Staat wieder zu einen. Man akzeptiert, dass es in Russland 13 Millionen Moslems gibt, mit denen führt man einen Dialog.
Aber natürlich ist Russland nicht daran interessiert, dass sich die westlichen christlichen Kirchen ausbreiten. Die Gesetzeslage dahingehend ist noch verschärft. Das macht es Protestanten und Katholiken schwer, sich einer missionarischen Arbeit in Russland hinzugeben. Die Orthodoxie soll praktisch eine staatstragende Rolle spielen. Ich denke aber, dass der Staat seine Zukunft auch in einer liberalen Verfassung sucht und dass sich über den Dialog zwischen den Kirchen die Situation wieder nivellieren lässt. Die Russen werden auch nicht vergessen, dass orthodoxe Gemeinden sich gerade in der Zeit des Kommunismus in Westeuropa, gerade in Deutschland entwickeln konnten und Hilfe vom deutschen Staat bekamen. Das darf man ja auch nicht unerwähnt lassen.
Wie geht es der russischen Bevölkerung in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht? Stimmt das Klischee von superreichen Städtern einerseits und bettelarmen Landfamilien andererseits?
Alexander Rahr: Ja das stimmt, aber das Wort "Klischee" muss man unterstreichen. Auf dem Land sind die Leute meistens bettelarm, und in den Städten sieht man Superreiche. Auch hier muss man die Entwicklungsperspektive sehen: Vor 20 Jahren waren alle arm, und jetzt gibt es einen unverhältnismäßigen Reichtum von drei bis zehn Prozent der Bevölkerung. Denen fehlt es aus meiner Sicht an Solidarität, an Sozialsinn, an Gerechtigkeitssinn, so dass sie ihr Vermögen absolut nicht bereit sind zu teilen. Es gibt dort keine Stiftermentalität, keine Spenden- oder Sponsorenmentalität wie im Westen. Das ist ein Problem.
Auf der anderen Seite muss man sagen: Der Lebensstandard in Russland steigt um 13 Prozent pro Jahr in den letzten Jahren 10 bis 12 Jahren unter Putin. Die Löhne und Gehälter steigen fast um dieselbe Prozentzahl an. Die Leute verdienen teilweise fast so viel wie im Westen, jedenfalls in den Städten. Es kommt zur Ausbildung einer Mittelschicht, das sind diejenigen, die um die 2000 Dollar pro Monat verdienen, davon gibt es schon mehr als 30 Prozent. Es werden Versicherungen eingeführt, es wird dieses Netz eingerichtet, das ja notwendig ist, um in Russland einen Sozialstaat zu kreieren.
"Er muss jetzt den Leuten mehr bieten,
und die Leute werden mehr von ihm fordern"
In Russland herrscht keine Hungersnot, keine Massenarbeitslosigkeit. Das beste Beispiel sind diese acht bis elf Millionen Russen, die jedes Jahr nach Europa fahren, um Urlaub zu machen: Das sind nicht die Reichen, das ist die Mittelklasse, die sich in der Türkei, in Griechenland, in Italien oder Frankreich niederlässt. Sie haben enorm aufgeholt. Das ist aber auch eine Gefahr für jemanden wie Putin, für den Staat. Der kann den Leuten nicht mehr einfach suggerieren: Seid froh, dass ihr nicht mehr im Kommunismus lebt, dass ihr was zu essen habt - das reicht nicht. Er muss jetzt den Leuten mehr bieten, und die Leute werden mehr von ihm fordern. Vor allen Dingen mehr Wohlstand.
Sie zeichnen ja ein relativ positives Bild …
Alexander Rahr: Neben dem Positiven muss man natürlich das Negative auch sagen: Das ist diese ausufernde Korruption, das Fehlen der Solidarität in der Gesellschaft: Jeder versucht den anderen zur Seite zu drücken, das ist ein Turbo-Kapitalismus, eine sehr egoistische Gesellschaft. Die Macht wird nicht geteilt. Wer oben ist, versucht sie mit aller Gewalt zu halten. Die Russen denken in der Kategorie "The winner takes it all". Und das muss sich erstmal ändern. Die Gesellschaft muss sich ändern. Man muss die alten Gespenster des Kommunismus endlich abschütteln. Man muss moderner werden, offener werden, wirklich anfangen, liberal zu denken. Das, denke ich, ist eine Generationsfrage in Russland. Deswegen bin ich auch eher optimistisch gestimmt. Ich sehe nicht, dass die Russen schlechte Menschen sind. Die gehen nur schwieriger durch die Transformationsphasen hindurch als Länder, die den Kommunismus nicht so lange am eigenen Leib gespürt haben.
Wenn Sie versuchen, 20 Jahre in die Zukunft zu blicken, bei der Annahme, Putin wäre zwei Amtszeiten lang Präsident: Was wird sich bis dahin in Russland noch verändert haben?
Alexander Rahr: Putin selbst muss sich ändern, mit der Keule allein oder mit den alten Methoden kann er nicht regieren. Es gibt in Russland natürlich die Gefahr eines nationalistischen Putsches, dass die Entwicklung von Seiten faschistischer Organisationen aufgehalten wird, aber die Gefahr ist gering. Genauso gering ist aber auch die Chance, dass Russland in den nächsten zehn Jahren den Übergang zur Demokratie schafft und ein Land wird wie Deutschland. Das wird eine Art des Durchwurschtelns geben, aber welche Erwartungen sollte man haben in einem Riesenland, das so unterschiedlich ist? Ein Land, das 80 Jahre lang nicht nach Gesetz und Recht gelebt hat, kann das nicht von einem Tag auf den andern lernen.
Alexander Rahr ist Leiter des Berthold-Beitz-Zentrums – Kompetenzzentrum für Russland, Ukraine, Belarus und Zentralasien in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Sein jüngstes Buch über Russland trägt den Titel "Der kalte Freund. Warum wir Russland brauchen: Die Insider-Analyse".