Berlin, 10. September 1943: Im Haus der Reformpädagogin Anna von Gierke trifft sich eine Runde gehobener Herrschaften – unter ihnen einige Diplomaten – zum Tee. Anwesend ist auch Elisabeth von Thadden, in dieser Zeit aktiv beim Deutschen Roten Kreuz und wohnhaft im Haus der Gastgeberin.
Die Teegesellschaft diskutiert intensiv die soeben erfolgte Kapitulation des faschistischen Italien. Alle Anwesenden erwarten, dass auch das Hitler-Reich bald zusammenbrechen wird. Sie überlegen, wie sie mit freundlich gesinnten Kreisen des Auslands in Kontakt kommen und Deutschland nach dem Krieg wieder aufbauen könnten.
Anwesend ist auch ein junger Arzt der Charité-Klinik, ein gewisser Paul Reckzeh. Kaum einer kennt ihn, aber er wurde Elisabeth von Thadden von einer Vertrauten empfohlen. Reckzeh diskutiert eifrig mit und bietet sich den anderen als Kurier in die neutrale Schweiz an. Man erteilt ihm den Auftrag, einen geheimen Brief dorthin zu übermitteln. Dieser Brief wird seinen Empfänger niemals erreichen.
Statt dessen kommt der Brief im "Reichssicherheitshauptamt" an. Dr. Paul Reckzeh war ein Spitzel der SS. In den folgenden Monaten werden die Mitglieder der Teegesellschaft festgenommen. Elisabeth von Thadden wird in Frankreich verhaftet, wo sie für das Rote Kreuz Dienst tun soll.
Statt "Endsieg"-Wahn Vorsorge für die Nachkriegszeit
Nach furchtbaren Haftwochen unter anderem in Ravensbrück und einer 14-stündigen Verhandlung wird sie im Juli 1944 vom "Volksgerichtshof" des Nazi-Richters Roland Freisler zum Tode verurteilt. Am 8. September 1944, dem Tag ihrer Hinrichtung in Berlin-Plötzensee, schildert sie dem Gefängnisseelsorger ihre Sicht der Dinge, unter anderem auch die Absichten ihrer "Teegesellschaft" mit Blick auf die zu erwartende Niederlage Deutschlands: "Ich hatte zuviel Einfluss, mein Kreis war zu bedeutend geworden. Wir wollten soziale Hilfe leisten, in dem Augenblick, wo diese Hilfe not tat. Dass dieser Augenblick kommen musste, war klar. Wir wollten barmherzige Samariter sein, nichts Politisches."
Tiefverwurzelte evangelische Frömmigkeit und zupackende Nächstenliebe, diese beiden hervorstechenden Charakterzüge der Elisabeth von Thadden, erwuchsen aus ihrer Kindheit und Jugend im ländlichen Pommern.
Mit 19 Jahren Gutsherrin und "Ersatzmutter"
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts bewirtschaftete die Familie von Thadden das Gut Trieglaff, heute polnisch Trzyg?ów. Politisch nationalkonservativ ausgerichtet, war die Familie in religiöser Hinsicht von der pietistischen Erweckungsbewegung geprägt. Als Elisabeths Vater, der Landrat des Kreises, verwitwete, musste sie, seine 19-jährige Älteste, an die Stelle der Mutter treten, die Geschwister großziehen und die Gutswirtschaft führen.
Angeregt von seiner weltoffenen Tochter veranstaltete der Vater im Sommer 1918 – der Weltkrieg wollte kein Ende nehmen – eine "Trieglaffer Konferenz" mit Verwandten, Freunden und Prominenten. Deren Zweck war es, sich über das Kriegsgeschehen und die einflussreiche Arbeiterbewegung zu informieren sowie Stellung zu nehmen zu den brennenden Fragen der Zeit.
Anwesend waren auch Prinz Max von Baden, der bald darauf den Kaiser zur Abdankung drängen sollte, und der Sozialpädagoge und Pazifist Friedrich Siegmund-Schultze (1889-1969), der in diesen Jahren die internationale Ökumene-Bewegung mit ins Rollen brachte. Er und die junge Gutsherrin inspirierten sich gegenseitig – und blieben bis zu Elisabeths Tod in Kontakt.
"Soldatisch-fromme" Schulgründerin
Die harmonische Zeit in Trieglaff endete, als der Vater sich 1920 erneut verheiratete: mit einer Frau, die fünf Jahre jünger als seine älteste Tochter war. Elisabeth, inzwischen 30 Jahre alt, verließ das Gut und begann eine Ausbildung an der Sozialen Frauenschule von Alice Salomon, Vorkämpferin für die Berufstätigkeit der Frauen. Elisabeth suchte einen Beruf, der "weiblich" genug sei – denn, so schrieb sie damals, "berufliche Frauenxanthippen sind mir ein Greuel!"
Schon wenig später aber hatte sie selbst "die Hosen an": zunächst als Leiterin eines Landerziehungsheims im Badischen, ab 1926 als Rektorin einer von ihr gegründeten evangelischen Reformschule für Mädchen in Schloss Wieblingen bei Heidelberg – heute bekannt als "Elisabeth-von-Thadden-Schule".
Die Ausbildung dort war in diesen Jahren geprägt von der fast schon soldatischen Frömmigkeit der Schulleiterin, wie sich eine ehemalige Schülerin erinnert: "Es war etwas von dem "Helm ab zum Gebet!" zu spüren." Das allerdings ohne Enge und Fanatismus: "Katholikinnen konnten ebenso wie die sechs kleinen Türkinnen ihren religiösen Verpflichtungen nachgehen, einschließlich des Fastens im Ramadan."
Einengung der Glaubensfreiheit macht sie zur Regime-Gegnerin
Die Frömmigkeit und das humanitäre Engagement der konservativen, ja eigentlich unpolitischen Prinzipalin wurden zum Politikum, als ab 1933 die Nazi-Ideologie den Schulen aufgezwungen werden sollte. Die Maßnahmen der Schulbehörden empörten Elisabeth von Thadden, die sich dagegen soweit es ging verwahrte. Im Mai 1941 schlossen die Nazis ihre Schule, weil diese "keine ausreichende Gewähr für eine nationalsozialistisch ausgerichtete Erziehung der Jugend" biete, wie es hieß.
Von Thadden, die ihr Lebenswerk zerstört sah, zog nach Berlin zur befreundeten Pädagogin Anna von Gierke. In der Hauptstadt verkehrte sie in den Kreisen der Bekennenden Kirche, die Hitlers Eingriffen in die evangelische Kirche widerstand. Seit sie von den Plänen des Diktators gehört hatte, gegen das Christentum nach dem Krieg noch radikaler vorzugehen, empfand sie sich als Gegnerin des Regimes.
Dass sie nicht an den Endsieg glaubte und Planungen für eine menschenwürdigere Gesellschaft anstellte, bestraften die Nazis mit dem Tod. Acht Monate später war ihr "Tausendjähriges Reich" am Ende.