Wie sind Sie dazu gekommen, Seelsorger in einem Zentrum für Psychiatrie zu werden?
Werner Jahn: Ich wollte schon immer eine seelsorgerisch spezielle Tätigkeit machen und habe auch die Ausbildung als Pastoralpsychologe gemacht, was mit ausschlaggebend dafür war, dass ich diese Stelle hier bekommen haben. Die Stelle war fast schon eine Fügung.
Bekommen Sie viele Anfragen von Patienten?
Jahn: Relativ oft, ja, weil die Ärzte und Therapeuten nicht genug Zeit haben und auf Glaubensfragen auch keine Antworten geben können. Zu wenig Zeit, das wiederum liegt an unserem Krankenkassensystem. Unser psychiatrisches System ist nicht in Ordnung. Patienten kommen, sind ein paar Wochen da, und kommen zwei, drei Monate später wieder, weil die Probleme eben nicht aufgearbeitet wurden. Meist kommen Patienten mit Glaubensfragen zu mir. Wenn sie ernsthaft krank werden, stellen sie sich die Frage nach Gott. Die meisten haben Probleme mit dem Glauben. Dabei sind es manchmal fünf Patienten am Tag, manchmal fünf in der Woche.
Wie gehen Sie dabei während eines seelsorgerlichen Gesprächs vor?
Jahn: Ich versuche herauszufinden, welche Erfahrungen der oder die Betreffende bisher mit Gott gemacht hat. Es geht darum, intensiv darüber zu reden und Dinge aufzuarbeiten. Eine psychische Krankheit ist ein Schicksalsschlag und viele kommen dann mit Fragen wie: Gibt es Gott? Straft mich Gott? Ist Gott noch mit mir? Oft schwirren dabei alttestamentarische Vorstellungen eines rächenden Gottes durch die Köpfe, aber Jesus hat uns einen anderen Gott gezeigt, einen gnädigen Gott. Aber es kann sein, dass er uns manchmal eine Auszeit schickt, damit wir Lebensfragen neu stellen. Eine psychische Erkrankung ist insofern sozusagen ein Fingerzeig.
Ein ziemlich drastischer Fingerzeig.
Jahn: Ja. Eine psychische Krankheit ist wie ein Stoppschild. Vielleicht schickt uns Gott diese Krankheiten, damit wir über unser Leben nachdenken. Es kann eine Hilfe sein, um einen neuen Weg ins Leben zu finden. Viele Patienten sehen das ein und ändern ihr Leben. Wenn man aus der Bahn geworfen wird, dann stellt man Fragen neu. Das Anderssein stellt einen vor neue Herausforderungen.
Sind psychisch Kranke wirklich so sehr anders?
Jahn (Bild links): Das ist völlig unterschiedlich. Manche bekommen so viele Medikamente, dass sie kaum noch reden können. Andere sind recht aufgeschlossen. Aber da ich auch schon Seelsorge mit Behinderten gemacht habe, kann ich damit umgehen.
Fällt es ihnen schwer, schwere chronische Erkrankungen mit anzusehen?
Jahn: Ich erschrecke manchmal schon bei Schilderungen, was Menschen alles erlitten haben. Ich denke dann: Warum ertragen Menschen solche Demütigungen? Was hat das alles für einen Sinn? Manchmal bin ich auch ratlos. Aber wir müssen mit manchen Dingen umgehen, obwohl sie schrecklich sind. Und wir bekommen nicht immer sofort eine Antwort. Ich zitiere dann gerne aus Jesaja, 55: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und meine Wege sind nicht eure Wege." Vielen hilft das dabei, auch mit Fragezeichen in ihrem Leben fertigzuwerden.
Nun lehrt uns die Bibel, dass es auch das Böse gibt.
Jahn: Ich von selbst fange nie in einem Gespräch mit dem Teufel an, aber manchmal tun das Patienten, indem sie fragen, ob ihnen womöglich der Teufel zusetzt. Ich versuche dann mit den Patienten herauszufinden, was sie unter dem Teufel konkret verstehen. Gutes und Böses in der Welt gibt es und Jesus ist in der Bibel auch damit konfrontiert worden.
Wie gehen Sie damit um, wenn ein Patient mit offensichtlichen Wahnvorstellungen zu Ihnen kommt?
Jahn: Neulich kam ein Patient, der wollte, dass ich ihn traue. Unter anderem hatte er Angela Merkel auf der Gästeliste stehen. Um damit umzugehen, braucht es sehr viel Berufserfahrung und viel Fingerspitzengefühl. Da muss man genau differenzieren können. Ein Anfänger, der frisch von der Uni kommt, voller Theorien, wäre hier fehl am Platz. Ich habe hingegen durch die Jahre, die ich hier arbeite, das Gefühl, auf vieles gefasst zu sein.
Betreuen Sie auch forensische Patienten?
Jahn: Ja, wobei die meisten ja nicht raus dürfen. Ich vereinbare dann telefonisch einen Termin und gehe auf Station. Dabei sammle ich bewusst im Vorfeld keine Informationen über den Betreffenden. Ich möchte den Menschen so unbefangen wie möglich gegenübertreten. Viele forensische Patienten befassen sich mit Glaubensfragen. Viele kommen auch in den Gottesdienst.
Gibt es Zeiten, in denen besonders viele Patienten zur Seelsorge kommen?
Jahn: Ja, zwischen Winter und Frühling. Das macht insbesondere Depressiven schwer zu schaffen, weil die draußen aufblühende Natur im völligen Gegensatz zu ihrem Inneren steht. Das ist für viele eine schwere Zeit.
Marijana Babic ist freie Journalistin.