Ich war damals sechs Jahre alt und wollte mir die schöne Blumenvase aus dem Wohnzimmerschrank nur ganz kurz mal genauer ansehen. Dabei rutschte sie mir aus den Fingern. (…) Der Boden voller Scherben. Was nun? Nach einer ewig langen Schrecksekunde habe ich damals die Scherben hektisch unter den Schrank geschoben. Nur weg damit. Jedes Mal, wenn meine Mutter auch nur in die Nähe des Schranks kam, klopfte mein Herz. Ich hatte Angst, dass sie die Wahrheit herausbekommt. Monatelang hat die Vertuschung geklappt.
Natürlich kam irgendwann das Unvermeidliche: Meine Mutter entdeckte die Scherben. Ich brach sofort in Tränen aus und gestand: Ja, ich war's. Was ich dabei gelernt habe: Es ist verdammt anstrengend, einen Fehler zu vertuschen. Und es tut weh, die Wahrheit zu sagen. Aber auf jeden Fall ging es mir nach meinem Geständnis deutlich besser.
"Ich war's": Ein ziemlich hoher Anspruch
Wäre es also nicht einfacher gewesen, gleich die Wahrheit zu sagen? "Eure Rede sei Ja ja oder Nein nein. Alles andere ist von Übel." Heißt es in der Bibel. Das ist ein ziemlich hoher Anspruch, finde ich. Immer klar sagen, was Sache ist und nicht um den heißen Brei herumreden.
Die Sehnsucht nach Wahrheit. Sie hat derzeit Hochkonjunktur. Sie steht wie in riesigen Leuchtbuchstaben über den großen Themen der Politik hier bei uns in Deutschland und weltweit. Das Misstrauen, dass Fehler vertuscht, uns nicht die ganze Wahrheit gesagt wird, ist mit Händen zu greifen.
Verschleierungstaktiken, wohin ich auch schaue. Ob bei den AKW-Betreibern in Fukushima, der Frage, wer beim Krieg in Libyen und in Nordafrika wirklich welche Interessen hat, oder beim Atom-Moratorium der Bundesregierung. Erst jetzt, wo die Scherben nicht mehr zu verbergen sind wird zugegeben, dass niemand das berühmte Restrisiko wirklich im Griff haben kann. Das gilt natürlich auch für die deutschen Atomkraftwerke. Für diese lang verdrängte Wahrheit müssen die Menschen in Japan jetzt bitter bezahlen.
Wir leben in einer hoch entwickelten Gesellschaft. Wäre es nicht an der Zeit, dass wir auch im Umgang mit der Wahrheit erwachsener werden? Manchmal möchte ich die Leute schütteln, die mit selbstsicherem Blick vor die Kamera treten und die Schuld für eine Misere bei allen anderen suchen und sich selbst herausreden.
"Die Wahrheit wird euch freimachen"
"Ich war’s – 7 Wochen ohne Ausreden". So heißt in diesem Jahr das Motto der Fastenaktion der evangelischen Kirche in Deutschland. Ein außergewöhnliches Motto. Stellen Sie sich das mal vor, sieben Wochen ohne faule Ausreden!
Natürlich merke ich an mir selbst, wie schwierig das ist. Nicht nur der großen Politik, sondern auch mir in meinem kleinen privaten Leben fällt es schwer, immer an der Wahrheit dran zu sein. Die Geschichte mit der zerbrochenen Vase habe ich nicht vergessen.
Jesus hat gesagt: Die Wahrheit wird euch frei machen. Er hält daran fest, an ehrlichen, aufrichtigen Worten. An einem klaren: Ja, ich war's. Denn natürlich machen wir Fehler. Fehler sind menschlich. Das ist für Jesus gar nicht der Punkt. Die Frage ist, wie wir damit umgehen, wenn wir einen Scherbenhaufen verursacht haben. Kehren wir alles unter den Teppich oder stehen wir zu dem, was passiert ist?
Klare Worte zur richtigen Zeit und keine Ausreden mehr. Das brauchen wir heute mehr denn je.
Nora Steen (34) ist die neue Sprecherin beim "Wort zum Sonntag".