Was wird aus Libyen nach der "Stunde Null"?

Was wird aus Libyen nach der "Stunde Null"?
Sollte Machthaber Muammar al-Gaddafi gestürzt werden, erlebt Libyen seine "Stunde Null": Das nordafrikanische Land verfügt über so gut wie keine staatlichen Strukturen: Es gibt keine Verfassung, kein Parlament, keine Parteien, keine unabhängigen Gewerkschaften, keine NGOs. In Bengasi, der Hochburg der Aufständischen hat sich nun zwar ein "Übergangsrat" als Sammelbecken der Opposition gebildet. Doch für den Westen ist unklar, wofür der politisch steht.
30.03.2011
Von Anne-Beatrice Clasmann

Als der Aufstand gegen den libyschen Despoten Muammar al-Gaddafi begann, ging alles ganz schnell. Binnen weniger Tage schlossen sich Dutzende führender Politiker und Offiziere den Aufständischen an. Aus spontan gebildeten Bürgerkomitees wurden Rebellen-Einheiten, die mit ihren Autos unter lauten "Allahu-akbar"-Rufen in die Schlacht gegen Gaddafis Soldaten und Söldner zogen.

Doch darüber, wofür die Aufständischen politisch stehen, rätseln die Regierungen, deren Armeen sie durch Luftangriffe unterstützen - bis heute. Das liegt auch daran, dass die Köpfe des Aufstandes nicht alle die gleichen Ziele haben. Einige Mitglieder des Nationalen Übergangsrates sind nicht einmal namentlich bekannt, weil sie befürchten, dass sich der Gaddafi-Clan sonst an ihren Angehörigen in Tripolis, Misurata und anderen von ihm kontrollierten Städten rächen könnte.

Strategiepapier lässt viele Fragen offen

Im Moment verwenden sie ihre ganze Energie darauf, Gaddafi zu stürzen und die Versorgung der Zivilbevölkerung in den von ihnen "befreiten" Gebieten zu garantieren. Doch was nach dem Sieg über den "Oberst Führer" kommen soll, darüber gehen die Meinungen auseinander. Zwar legte der von Ex-Justizminister Mustafa Abdul Dschalil geleitete Übergangsrat rechtzeitig zur Londoner Libyen-Konferenz ein Strategiepapier mit dem vielversprechenden Titel "Eine Vision für ein demokratisches Libyen" vor.

Leitet den Übergangsrat: Mustafa Abdul Dschali. Foto: Weiss Andersen Flemming/dpa

Darin bekennen sich die Aufständischen zu Werten und Prinzipien wie Gewaltenteilung, Gleichberechtigung der Frau, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit. Das islamische Recht ("Scharia") wird darin nicht erwähnt. Doch viele Fragen bleiben offen. US-Außenministerin Hillary Clinton räumte während der Konferenz in London ein, auch sie wisse bislang noch nicht viel über die libysche Opposition.

Der weltgewandte Ökonom Mahmud Dschibril, der vom Rat in Bengasi vergangene Woche zum Ministerpräsidenten einer Übergangsregierung ernannt worden war, ist momentan so etwas wie das Aushängeschild der Aufständischen. Denn er weiß, wie man mit Diplomaten und westlichen Politikern reden muss. Schließlich hatte er dies früher auch schon mit dem Segen des Gaddafi-Clans getan, der ihm damals den Auftrag erteilt hatte, die wirtschaftliche Öffnung des Landes voranzutreiben. Ob dem Technokraten und anderen ehemaligen Amtsträgern diese Nähe zum alten Regime in einem "neuen Libyen" vielleicht doch noch zum Verhängnis werden könnte, ist noch nicht abzusehen.

Islamisten und Hichrichtungen lassen Rat im Zwielicht erscheinen

Was westliche Politiker, die den Rebellen helfen wollen, zusätzlich beunruhigt, sind die Berichte, wonach sich auch einige Mitglieder der libyschen Islamistengruppe LIFG den Rebellen angeschlossen haben sollen. Zahlreiche Mitglieder dieser Gruppe, die sich ideologisch am Terrornetzwerk Al-Kaida orientiert, waren vom Gaddafi-Regime in den vergangenen Monaten freigelassen worden. Ihre von Gaddafis Sohn Seif al-Islam organisierte Freilassung war ein von Experten kritisch bewerteter Versuch einer Aussöhnung mit den Islamisten gewesen.

Auch die zu Beginn des Aufstandes veröffentlichten Videos von ausländischen Söldnern, die von Rebellen hingerichtet oder gequält worden waren, warfen kein gutes Licht auf die Aufständischen. Der Nationalrat nahm dazu in der vergangenen Woche Stellung und erklärte: "Wir bedauern vereinzelte Zwischenfälle in den ersten Tagen der Revolution und garantieren, dass sich diese nicht wiederholen werden." Ab sofort werde jeder Gefangene "menschlich behandelt".

Ob der Rat mit dieser Direktive wirklich zu allen Rebellen durchdringt, bleibt jedoch genauso abzuwarten wie eine Entscheidung in der Frage, was mit Gaddafi geschehen soll. Abdul Dschalil will, dass er in Libyen vor Gericht gestellt wird. Andere Mitglieder des Nationalrates fordern, dass Gaddafis Verbrechen gemäß UN-Beschluss vom Internationalen Strafgerichtshof untersucht werden. Einige pragmatische Oppositionelle würden auf einen Prozess notfalls ganz verzichten, wenn dies Gaddafi dazu bewegen könnte, ins Exil zu gehen, was möglicherweise weiteres Blutvergießen verhindern würde.

Ministerpräsident der Übergangsregierung: Mahmud Dschibril. Foto: Christophe Morin/dpa

Alles in Libyen ist auf Gaddafi ausgerichtet

Die meisten Experten bleiben derweil skeptisch, was die Gründung eines neuen libyschen Gemeinwesens angeht. Sie weisen daraufhin, dass Libyen bislang fast alles fehlt, was einen Staat ausmacht. Es gibt, weil im System der sogenannten "Volksherrschaft" bisher alle Entscheidungen von Gaddafi und seinem Clan getroffen wurden, keine Verfassung, kein Parlament, keine Parteien, keine unabhängigen Gewerkschaften oder Nichtregierungsorganisationen.

Auch die Armee, die sich während der Revolutionen in Tunesien und Ägypten als Stabilitätsfaktor bewährt hatte, wird in Libyen wohl keine tragende Rolle spielen, weil mehrere Einheiten von Gaddafi-Verwandten geleitet wurden. Deshalb ist auch nach einem Sturz von Gaddafi nicht auszuschließen, dass in Libyen weiter Blut vergossen wird. Einige Stämme und Gruppierungen, die unter Gaddafi bei der Verteilung von Vergünstigungen und Posten bevorzugt worden waren, könnten sich zurückgesetzt fühlen und aufbegehren.

Dass Libyen - ähnlich wie der Jemen - zu einem neuen Sammelbecken für Al-Kaida-Terroristen werden könnte, ist dennoch eher unwahrscheinlich. Denn die Argumente der Terroristen, die im Moment mit Missbehagen auf die militärisch-taktische Allianz zwischen dem Westen und den Aufständischen in Libyen blicken, klingen wenig überzeugend.

In einer Botschaft, die am Tag der Londoner Konferenz von den Administratoren mehrerer Islamisten-Foren im Internet veröffentlicht wurde, heißt es: "Diese Versammlung von Plünderern und Schlangen richtet sich gegen den Islam. Die westlichen Regierungen wollen doch nur gute Beziehungen zu den Herrschern von Staaten aufbauen, die reich an Bodenschätzen sind (...), damit diese Herrscher dann die Religion bekämpfen." Allerdings gingen auch die Unterstützer des Terrors nicht so weit, dass sie den Rebellen geraten hätten, auf die Luftangriffe der "Ungläubigen" zu verzichten.

dpa