Das Dart Center für Journalismus und Traumata befasst sich mit der Berichterstattung über Gewalt. Journalisten erhalten durch ihre Arbeit Hinweise darauf, wie sie ihrer Informationspflicht nachkommen können, ohne Gewaltopfer weiter zu traumatisieren. Hilfe gibt es auch für Journalisten, die durch ihre Arbeit über Gewalt selbst traumatisiert wurden Mit welcher Motivation haben Sie das Dart Center gegründet?
Bruce Shapiro: Wir waren mehrere Leute. Für mich persönlich gab es zwei Motive. Eines davon beschäftigte mit unterschwellig schon seit dem Beginn meiner Karriere. Schon damals als Lokaljournalist kam ich mit sehr viel Gewalt und schlimmen Schicksalsschlägen in Berührung. Als ich 19 Jahre alt war musste ich über eine Frau schreiben, die nach einem Giftgasunfall gestorben war. Das war meine erste Geschichte. Auch später, als ich dann als politischer Korrespondent für Justiz und Menschenrechte zuständig war, kam ich oft mit Gewalt in Berührung, etwa, wenn es um die Todesstrafe ging.
Inwiefern?
Shapiro: Wie viele Journalisten sah ich mich mit unmittelbaren moralischen Fragen konfrontiert, etwa: Beute ich diese Menschen für meine Geschichte aus? Habe ich überhaupt ein Recht, vor Ort zu sein? Ich verdrängte diese Fragen, weil ich überzeugt war, dass ein großes öffentliches Interesse und Recht auf Information in dieser Sache bestand. Doch auf Dauer konnte ich das Dilemma nicht lösen. Ich wusste nicht, wie ich Opfern oder deren Angehörigen begegnen sollte, wie ich sie befragen, was ich ihnen zumuten konnte. Auch mit den Kollegen in der Redaktion Das wurde bei uns in der Redaktion auch nie thematisiert.
Das zweite Motiv war sicherlich die Tatsache, dass sie selbst Opfer eines Anschlags wurden...
Shapiro: Ein schlimmes Ereignis im Sommer 1994 veränderte meine Perspektive. Ich und sechs weitere Menschen wurden in einem Café von einem Mann niedergestochen. Im Sommerloch wurde die Geschichte groß gefahren und kam auf die Titelseiten der New York Times und des Time Magazines. Urplötzlich war ich nicht nur Journalist sondern auch Opfer. Als ich meine Erfahrungen in verschiedenen Artikeln beschrieb, wurde mir bewusst, dass ich den Prozess, den ein Opfer nach einer Gewalttat erlebt, bislang überhaupt nicht verstanden hatte. Ich reagierte äußerst emotional auf die Berichterstattung und die Fernsehkameras, mich und meine Familie belagerten. Seither beschäftigt mich das Verhältnis von Gewalt und Medien. Ich war nicht der einzige. Wir fanden uns in einer Gruppe aus Psychologen, Betroffenen und Kollegen zusammen, um uns auszutauschen und zu lernen. Wir unterrichteten dies auch an Journalistenschulen. Es ging um moralische, aber auch praktische Fragen. Wie kann man in einer extremen Situation fair mit Opfern umgehen? Was braucht es, damit sie einem Journalisten vertrauen können? Wie viele Details eines Gewaltverbrechens oder Unglück gehören zum öffentlichen Interesse und wo sind die Grenzen? Wie kann ein Journalist mit dem Dilemma umgehen, dem Interesse der Öffentlichkeit gerecht zu werden und andererseits auch den Betroffenen? Das war der Beginn der Dart Foundation, aus der Jahre später das Dart Center hervorging.
Was waren die wichtigsten Themen, die Journalisten, die viel mit Gewalt zu tun haben, beschäftigten?
Shapiro: Zwei Jahre später stießen wir auf ein Thema, dass bis dahin noch nie öffentlich diskutiert worden war. Ein befreundeter Psychiater hielt ich einen Vortrag über die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bei der Seattle Times. Daraufhin meldete sich ein älterer Redakteur und sagte: "Das trifft ziemlich genau auf mich zu." Wir gaben Umfragen und Untersuchungen in Auftrag, um herauszufinden, wie groß die traumatische Belastung für Journalisten ist, die über Gewalt und Kriminalität berichten. 86 % aller Lokaljournalisten haben mit solchen Themen zu tun, unsere Ergebnisse ergaben, das etwa sechs bis 13 Prozent Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigten, bei den Auslandskorrespondenten sind es sogar 28 Prozent. Unsere Untersuchungen ergaben aber auch, dass Journalisten statistisch gesehen relativ gute seelische Widerstandskräfte gegenüber PTBS aufweisen.
Welche Risikofaktoren gelten für Journalisten?
Shapiro: Bei Traumata gibt es keine kausalen Zusammenhänge. Aber wir fanden heraus, dass ein wiederholtes Miterleben von Gewalt und Kriminalität das Risiko erhöht. Als ich jung war, dachte ich immer, je mehr Berufserfahrung ich haben würde, desto weniger würden mich das Erlebte mitnehmen. Diese Annahme ist offensichtlich falsch. Auch wenn eine hohe Identifikation mit dem Ereignis wirkt sich negativ aus. Das bedeutet, je mehr ich mir vorstelle, das Ganze könnte auch mir selbst passieren. Klassisch sind dabei Autounfälle, über die jemand berichtet, der anschließend in sein eigenes Auto einsteigen muss. Auch Mütter und Väter, die miterleben müssen, wie ein Kind stirbt, kommen dies schwerer verkraften. Auf der anderen Seite gibt es Faktoren, die die seelischen Widerstandskräfte stärken können. Dazu gehören vor allem ein gutes Teamgefühl und Zusammenhalt in der Redaktion, aber auch ein Basiswissen über die Symptome Zusammenhänge eines Traumas. Dadurch lernen Betroffene, dass Sie häufig sehr normale Reaktionen zeigen.
Wie bewerten Sie die Aufgaben eines Journalisten in einer Situation nach einer Tragödie? Wie kann man die Qualität seiner Arbeit beurteilen?
Shapiro: Die Aufgabe, nach einem Unglück oder etwa einem Amoklauf zu berichten, ist besonders für Lokaljournalisten eine große Herausforderung. Anders als die anderen Medien können sie eine große Geschichte fahren und danach wieder verschwinden. Meistens leben sie in der Gemeinde und sind auf irgendeine Weise betroffen. Gerade wegen dieser fehlenden Distanz wird häufig das Thema Objektivität diskutiert. Dabei gibt es aus meiner Sicht gar keine journalistische Objektivität. Jeder Reporter hat seine eigene Geschichte, seine eigene Sichtweise. Diese muss und darf ein guter Journalist nicht verleugnen. Seine wichtigste Aufgabe ist es, fair zu berichten. Nach dem Hurrikane Katrina sprach ich mit einem befreundeten Reporter, der damals sehr wütend auf die Regierung war. Zu recht, immerhin hatten er und 40 Prozent der Redaktion ihre Häuser verloren. Ich fragte ihn, wie er es schaffen könnte, trotz seiner existenziellen Wut fair über das Thema zu berichten. Er antwortete: "Nur weil mir bewusst ist, wie wütend ich bin, kann ich mich zusammenreißen und fair sein." Fairness wird umso wichtiger, desto emotionaler und persönlicher ein Thema für diejenigen ist, über die berichtet wird.
Lokaljournalisten leben in der Gemeinde, in der sie schreiben. Wenn dort ein Unglück passiert, dürfen sie die Betroffenen nicht allein lassen. Ist es aus Ihrer Sicht empfehlenswert, wenn Journalisten eine Art Beziehung zu den Opfern aufbauen, über die sie berichten, um das Vertrauen zu stärken? Wie viel Anteilnahme tut dabei gut?
Shapiro: Ich denke, Journalisten können offen und fair sein. Es kann manchmal auch helfen, wenn Opfer etwas über den Menschen wissen, der über sie schreibt. Aber Journalisten dürfen sich niemals in den Mittelpunkt drängen. Das wäre nicht vertrauensfördernd. Es muss immer klar bleiben, wer die Hauptperson der Geschichte ist. Außerdem ist es keinesfalls die Aufgabe eines Journalisten, ein Freund zu sein. Aus meiner Sicht ist es gerade bei Themen mit einem hohen emotionalen Druck sehr wichtig für beide Seiten, dass eine feste Interviewstruktur eingehalten wird. Das schafft Klarheit und mindert das Risiko von Grenzverletzungen.
Was ist aus Ihrer Sicht die Aufgabe von (Lokal-)Journalisten nach einem Schulmassaker wie in Winnenden?
Shapiro: So ein Ereignis passiert nicht und kann dann für die Vergangenheit abgehakt werden. Die ganze Gemeinde erleidet ein Langzeittrauma, dass sich auf ganz unterschiedliche Weise und mit verschiedenen Graden der Betroffenheit offenbart. Manchmal ist die lokale Presse die einzige vertrauenswürdige Informationsquelle. Das ist eine große Verantwortung. Journalisten können helfen und beeinflussen, wie die Menschen das Trauma und die eigenen Heilungsperspektiven wahrnehmen. Zunächst müssen Journalisten akzeptieren, dass es sich um einen kontinuierlichen Prozess und kein einmaliges Ereignis handelt. Sie müssen ein sensibles Gespür für diesen Prozess entwickeln Es ist normal, wenn sich besonders unmittelbar Betroffene isoliert fühlen, wenn sie traurig sind und oft eben auch sehr wütend. Wenn das eigene Kind in der Schule erschossen wird, verlieren viele Eltern das Vertrauen in die Gesellschaft. In jenen sozialen Vertrag, der uns eigentlich garantieren soll, dass wir in einem sicheren Land leben und dass Schulen sichere Orte sind. Wenn dieser Vertrag durch einen Amoklauf gebrochen wird, bricht nicht nur das Familienleben sondern auch das gesellschaftliche Vertrauen zusammen.
Können Journalisten den Heilungsprozess der Angehörigen unterstützen?
Shapiro: Journalisten können diesen Prozess positiv begleiten, indem sie diesen Menschen eine Stimme geben. Indem sie helfen, zu vermitteln, zwischen jenen, die sich schwer tun, weiterzuleben und jenen, die schon längst nichts mehr von dem Schulmassaker wissen wollen. Wenn einige Zeit verstrichen ist, beispielweise am ersten Jahrestag, können Journalisten erinnern. Nicht, indem sie die Vergangenheit zurückholen, sondern indem sie aufzeigen, wie sich die Situation entwickelt hat und was momentan für den Heilungsprozess von einzelnen oder der gesamten Gemeinde wichtig ist. Dabei kann es aber nie eine pauschale Herangehensweise geben, denn jeder Betroffene hat seine ganz eigene Art und Zeit, mit dem Erlebten umzugehen. Es geht immer um die Frage, welche Geschichte wann und wie erzählt werden kann. Dabei müssen Journalisten immer wieder ihr Gewissen befragen und auch über die eigenen Gefühle reflektieren.
Anne-Katrin Schneider arbeitet bei der Waiblinger Kreiszeitung. Das Interview entstand im Rahmen der Lokaljournalistenforums 2011 in Waiblingen. Weitere Informationen und Beträge vom Forum Lokaljournalismus der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb unter forum-lokaljournalismus2011.de oder drehscheibe.org