Die Zeitung: Der 800-Pfund-Gorilla und die Hungerkur

Die Zeitung: Der 800-Pfund-Gorilla und die Hungerkur
Die Debatte über den "Faktor Print" im digitalen Medienumbruch muss noch geführt werden. Als Werbeträger sind Zeitung und Zeitschriften bislang noch hoch attraktiv und erfolgreich.
14.01.2011
Von Ralf Siepmann

"Print wirkt" - so heißt die Kampagne. Erdacht haben den Slogan die Strategen der Werbeagentur McCann Erickson, denen die deutschen Verbraucher auch Werbesprüche wie "Pack den Tiger in den Tank" oder "Kleine Torte statt vieler Worte" – nun ja – zu "verdanken" haben. Bereits in ihr zehntes Jahr geht die Aktion "Print wirkt", mit der die deutschen Zeitschriften die Fähigkeiten und Potentiale gedruckter Magazine immer wieder bewusst machen. Gattungsmarketing nennt man das in Fachkriesen. Speziell im Fokus: die Werbewirtschaft, was auch plausibel ist.

Denn bei den Vermarktern entscheidet immer mehr eine mit dem Internet sozialisierte Generation über Werbebudgets und Mediaplanungen, die ihr Nutzungsverhalten auf "casual devices" umstellt. Die neuen "coolen" Smartphones und Tablet-PCs wie iPhone und iPad drängen den "Faktor Print", die gedruckte Zeitschrift wie die "gute alte Zeitung" in den Hintergrund, zumindest im individuellen Medienverhalten der Werbemanager.

In diesen Tagen sind die Motive für die erste Anzeigenwelle von "Print wirkt" in 2011 festgelegt worden. Sie unterstützen Kernbotschaften ("zehn Argumente"), die auf einer eigenen Homepage dokumentiert sind, die mit der Website des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) vernetzt ist. Gedrucktes in der Krise? Wohl kaum, folgt man diesen Botschaften. Print, heißt es da, ist schnell, innovativ, macht Quote. Print, heißt es weiter, wächst online und ist – damit sind wir schon beim Schlüsselwort des noch jungen neuen Medienjahres – "Paid Content". 2,5 Milliarden Zeitschriften kaufen danach die Deutschen jedes Jahr. 3,4 Milliarden Euro geben sie dafür aus. Geld, sagt der VDZ, das den Verlagen hilft, "Glaubwürdigkeit hochzuhalten. Als Medium und als Werbeträger."

Der stärkste "Kaufimpuls"

Von den Vorzügen von Print kündet auch die Zeitungsmarketing Gesellschaft (ZMG), die als Mittler zwischen Kunden und Media-Agenturen einerseits und den Zeitungsverlagen andererseits agiert. Unlängst fütterte die ZMG eine Studie des rheingold-Instituts in die Branche, die der Zeitung "den stärksten Kaufimpuls" bescheinigt. Ein Fazit der Expertise: "Mit ihrer Wirkkraft lässt die Zeitung alle anderen Medien hinter sich." 2010 wurden an einem durchschnittlichen Tag in Deutschland rund 24 Millionen Zeitungen verkauft, circa 4,4 Milliarden Euro an Vertriebserlösen erwirtschaftet, 3,9 Milliarden an Werbeerlösen. Print profitiert gar vom Web. Jedes dritte Zeitschriften-Abo werde online abgeschlossen, vermelden die "Argumente". Print hat also vieles - und jede Menge Zukunft.

Wie bitte, mag sich da mancher fragen, der in den Problemjahren 2008/9 ständig die Meldungen vom Auflagen- und Anzeigenrückgang verfolgt hat? Ist das dieselbe Branche, die 2010 den größten Paradigmenwechsel des letzten Jahrzehnts erlebt hat? Hat sie sich doch spätestens seit der Präsentation von Apples iPad im April aufgemacht, "digital first" zur Leitlinie in die Zukunft zu erheben. Im Digitalen, glaubt seitdem das Gros der Branche, entstehen die Mautstellen von morgen und somit die rettenden Paid-Content-Modelle. Früher oder später könne dann mit einer tendenziellen Substitution der Umsatzeinbußen im klassischen Print-Sektor gerechnet werden.

Smartphones und Tablets seien die Zeitung der Zukunft, hat der Präzeptor der digitalen Kurskorrektur, Springers Vorstandschef Mathias Döpfner, wiederholt verkündet. Zuletzt Anfang Dezember, als der Verlag eine erste Bilanz der Akzeptanz seiner kostenpflichtigen mobilen Angebote ein Jahr nach deren Einführung zog. Knapp 540.000 Abos und gut 811.000 Downloads hat man verkauft.

Das iPad und die Druckindustrie

Print oder Tablet? Smartphones und immer weniger Print? Wer so denkt, der muss natürlich von Trendmeldungen aufgeschreckt sein, wie sie zum Beispiel die Agentur JOM Jäschke Operational im August verbreitete. Angenommen wurde ein iPad-Bestand von zwei Millionen Geräten 2012 in Deutschland (derzeit je nach Schätzung 200.000 bis 300.000), vorrangig im Publikumssegment von 30 bis 49 Jahre. Unterstellt wurde ein Swing von Print hin zu E-Reading bei 20 bis 30 Prozent der regelmäßigen Tageszeitungs- und Zeitschriftenleser unter den iPad-Nutzern. Ergebnis: Knapp 75 Millionen Print-Exemplare werden durch digitale Versionen ersetzt, davon gut 62 Millionen Exemplare der Tagespresse.

Wie gesagt, Hochrechnungen für eine kurze Spanne. Welche Effekte mögen erst dann eintreten, wenn das iPad und die vielen Generationen seiner Nachfolge- und Konkurrenzprodukte sich bei fallenden Preisen für die Endgeräte flächendeckend durchsetzen? Nicht nur die Verlage wären tangiert. Nicht nur das Presse-Grosso, das wichtigste Print-Vertriebssystem in Deutschland, das 2,7 Milliarden Euro umsetzt (2009) und sein klassisches Geschäftsmodell nicht ohne weiteres digital kompensieren kann. Knapp 45 Prozent der in Deutschland verbrauchten Papiermenge entfallen laut JOM auf grafische Erzeugnisse. Sollten sich die Verbreitung von Tablet-PCs und das E-Reading weiter beschleunigen, könnten dieser Anteil und die dahinter stehende Menge Papier langfristig spürbar sinken – mit gravierenden Folgen für die Papier- und die Druckindustrie.

Print oder Tablet? Unter dieser Formel haben sich im vergangenen Jahr zwei Denkschulen etabliert, die mit denselben Begriffen agieren, aber mit ihnen partiell Unterschiedliches verbinden. Vom Geschäftsmodell und damit der künftigen Finanzierbarkeit von Zeitungen und (anspruchsvollem) Journalismus ist die Rede, wenn VDZ-Präsident Hubert Burda beispielsweise beim Zeitschriftentag im November proklamierte: "Print is back". Seine Begründung: "Das Vertriebsgeschäft ist stabil, und die Anzeigenumsätze wachsen wieder." Was Springer-Vorstand Andreas Wiele an Ort und Stelle zu der Anmerkung veranlasste: "Print war nie weg! Weg war allenfalls das Selbstvertrauen unserer Branche. Dabei haben sich die beeindruckenden Stärken, die für Print sprechen, auch in den Krisenjahren 2008 und 2009 nie verändert."

Vernachlässigung der Print-Potenziale

Was dann strategisch bedeutet, dass Print weder ein innovations- noch ein investitionsfreier Raum ist oder sein sollte. Die Gefahr der Vernachlässigung des Print-Potenzials existiert jedoch akut. Sie wird auch im Mutterland der Zeitungskrise thematisiert. Unmittelbar nach nach Steve Jobs' iPad-Premiere beschwor beim Jahreskongress der US-Zeitungsverleger (NAA) in Orlando/Florida ein Zeitungsmanager das Potential von Print, zumal im lokalen Raum, das er eindrucksvoll mit dem Bild des "800 Pfund-Gorillas" ausmalte. Der dürfte nicht ohne Not zum Hungern gebracht werden.

In der Physik findet bisweilen nicht nur eine Theorie auf ein Phänomen Anwendung, wie besonders einleuchtend Stephen Hawking herausgearbeitet hat. Print oder Tablet? Dies muss die Formel "Print und Tablet" keineswegs ausschließen. In den Fokus rückt so die mediale Dimension von journalistischen Inhalten, die auf unterschiedlichen Vertriebswegen ihre Leser finden sollen. Diese Diskussion um den "Faktor Print" im digitalen Medienumbruch wurde jedoch bislang nur marginal geführt. Ein mentales Problem, nach Jahrzehnten der analogen Selbstverständlichkeit?

Die Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Journalisten-Union in ver.di, Ulrike Maercks-Franzen, sah dies im September durchaus so: Für die Branche sei zwar unzweifelhaft, dass Print "wichtig ist. Aber wir beweisen es nicht." Die unbestreitbaren Vorzüge gedruckter Zeitungen und Zeitschriften müssten über alle Kommunikations- und Verbreitungswege hinweg vermittelt werden.

Welches aber sind die "unbestreitbaren Vorzüge"? Können iPad & Co. all das leisten, was Print mit seinen bravourösen Fähigkeiten (siehe oben) zuwege bringt? Antworten auf diese medien- wie gesellschaftspolitische Frage könnten 2011 gefragter sein als bislang. Sie müssen im Übrigen keineswegs aus den Medien selbst kommen, wie allen voran Bundestagspräsident Norbert Lammert mehrfach demonstriert hat.

Internet vs. Print

Als "voreilig" wies Lammert im September auf dem Jahreskongress des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) die Prognose zurück, das Internet verdränge die klassische Zeitung, also Print. Der Web-Nutzer suche meist nur nach Informationen zu vorher ohnehin bereits ausgeprägten Interessen. Er folgt mit anderem Worten seinem Vorverständnis samt Vorurteilen. Hingegen, so wiederum Lammert, öffne sich der Print-Nutzer einem inhaltlichen Komplett-Angebot, das er im Vertrauen auf die Redaktion insgesamt für relevant hält. Der Politiker wörtlich: "Er setzt sich bewusst, vielleicht sogar leichtfertig, dem Risiko aus, mit Informationen konfrontiert zu werden, die andere für wichtig halten. Das mag man mutig oder leichtsinnig finden, jedenfalls ist es etwas anderes als die Informationssuche im Internet."


Ralf Siepmann ist freier Journalist und arbeitet in Bonn.