Herr Barth, Ihre Berufsbiografie hat Sie vor 25 Jahren in das Kirchenamt der EKD geführt. In dieser Zeitspanne haben Sie unterschiedliche Aufgaben erfüllt. Wie hat sich die Kirche seither verändert?
Barth: 25 Jahre in 25 Sekunden? Ich mag nicht den Gestus der großen Linien. Dazu braucht es viel mehr Abstand - zeitlich und im Blick auf die eigene Rolle. Darum in aller Bescheidenheit nur drei Beobachtungen: In den vergangenen 25 Jahren hat sich die Prognose bestätigt, dass die Achtung, die der Kirche in der Öffentlichkeit und durch sie entgegengebracht wird, immer weniger eine überkommene Selbstverständlichkeit ist. Wir müssen uns diese Stellung erwerben, ja verdienen, indem unsere Predigten aufhorchen lassen und unsere Argumente zu ethischen Fragen tatsächlich Orientierung geben. Zweitens: Ich nehme bei jungen Menschen eine neue Offenheit für, ja, eine Neugier auf Religion wahr. Das bezieht sich auch auf die christliche Botschaft, die Rituale der Kirche und die Vollzüge der alltäglichen Frömmigkeit. Diese jungen Leute zwischen 15 und 35 müssen sich von niemandem absetzen. Sie sind unbefangen, unbelastet, ohne Vorurteil. Und wir brauchen nur auf die Kraft unserer heiligen Texte, Rituale und Vorbilder zu vertrauen. In die vergangenen 25 Jahre fällt schließlich drittens die flächendeckende Ausbreitung der IT-Technologie mit ihren aufwändigen Erneuerungszyklen auch in der Kirche. Hat das die Qualität unserer Produkte und unserer Arbeit gesteigert? Nein. Es ist ein Dilemma. Sich verweigern geht nicht. Aber die enorme Beschleunigung und quantitative Steigerung der Kommunikation wurden jedenfalls mir zum knechtenden Joch. Gibt es wirklich nur individuelle Lösungen?
Ihre Zeit in der EKD war geprägt durch die verschiedenen Ratsvorsitzenden, sieben waren es in Ihrer Dienstzeit. Mit wem haben Sie am engsten zusammengearbeitet?
Barth: Ich hatte das Glück, mit lauter Vorsitzenden zusammenzuarbeiten, die mit mir konnten und ich mit ihnen. Ich bin ja auch ein verträglicher Typ. Jeder Gedanke an eine Reihenfolge brächte einen falschen Ton herein.
"Die vielleicht härteste Zerreißprobe
war die Auseinandersetzung um die
Wiederbewaffnung Deutschlands und
die Einrichtung der Bundeswehr."
Das zurückliegende Jahr war für die evangelische Kirche turbulent. Ihre Planung sah zunächst anders aus. Den Umständen geschuldet haben Sie dann ein halbes Jahr verlängert und scheiden nun Ende November aus. War 2010 für die EKD die größte Bewährungsprobe in 25 Jahren?
Barth: Da würden mir aber andere Bewährungsproben eher einfallen, etwa das kirchliche Zusammenwachsen von Ost und West ab 1990. Jürgen Schmude hat die Synode der EKD, der er von 1985 bis 2003 vorstand, durch viele Stürme hindurchgesteuert. Eines der wirksamsten Mittel dabei war, dass er den Kampfgeist der Synodalen anstachelte. Der EKD seien schon viele "Zerreißproben" - so der von ihm bevorzugte Ausdruck - vorhergesagt worden. Und sie sei noch immer heil davongekommen. Das gilt sogar für die vielleicht härteste Zerreißprobe, als es in der zweiten Hälfte der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts um die Wiederbewaffnung Deutschlands und die Einrichtung der Bundeswehr ging. Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen, lautet die berühmte sogenannte Ohnmachtsformel. Wobei dieser Begriff die inhaltliche Substanz des Gedankens, dass wir unter dem Evangelium zusammenbleiben, nur sehr unzureichend wiedergibt.
Anfang November wurde Nikolaus Schneider mit sehr deutlicher Mehrheit zum Ratsvorsitzenden gewählt, der Rat in Nachwahlen komplettiert. In diesen Tagen vollzieht sich der Wechsel an der Spitze des Kirchenamtes. Hat die EKD wieder Kurs oder fährt sie, wie ein Beobachter über beide Kirchen meinte, weiter auf Sicht?
Barth: In nautischen Angelegenheiten bin ich trotz Hang zum Norden ein Fremdling geblieben. Aber so viel meine ich zu verstehen: Auf Sicht fahren und Kurs haben sind nicht notwendig Gegensätze. Es kann manchmal ein Gebot der Klugheit sein, wohl Kurs zu halten, aber das Tempo zu drosseln und sich behutsam vorwärts zu bewegen. Das Jahr 2010 hat die Kirchen von früh an in die Defensive gebracht: Rücktritte vom Bischofsamt, Rücktritt des Präsidenten des Diakonischen Werkes der EKD, die Hängepartie im Blick auf den Rat der EKD, das peinvolle Kapitel "Heimerziehung", die schockierenden Fälle sexueller Übergriffe, die im Raum der Politik gebildeten Runden Tische - um nur die wichtigsten Faktoren zu nennen. War es in dieser Lage eine echte Handlungsoption der Kirchen, dem Agenda-Setting der Medien und der Öffentlichkeit eigene Initiativen gegenüber oder an die Seite zu stellen? Hätte das nicht wie ein Ablenkungsmanöver gewirkt? Inzwischen sind einige der "heißen" Themen versachlicht. Die personellen Hängepartien sind bereits oder werden in Kürze entschieden. Die Randbedingungen für eine kraftvolle Fortsetzung des Prozesses "Kirche im Aufbruch" und seine Verzahnung mit der Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 bessern sich.
Welchen Rat aufgrund Ihrer Erfahrungen geben Sie denn Ihren Nachfolgern?
Barth: Mit Ratschlägen - zumal an die Adresse der Nachfolger - muss man sehr vorsichtig sein. Am besten verkneift man sich das. Darum verstehen Sie bitte das Folgende gar nicht speziell an die Nachfolger, sondern an alle gerichtet, die ein Amt mit Leitungsaufgaben ausüben. Ihnen sage ich als erstes: Kümmert euch nicht allzu viel um das, was angeblich gesagt wird und was ihr nur vom Hörensagen erfahrt. Man kann es sowieso nicht frontal angehen, denn es ist ungreifbar. Der zweite Ratschlag ist: Macht es euch zunutze, dass das Amt die Person trägt, nicht die Person das Amt. Aber jede Person drückt dem Amt ihren unverwechselbaren Stempel auf. Und das dritte: Der Mechanismus der Zuschreibung, wenn sie positiv ist, erleichtert das Leben ungemein. Wehrt euch nicht gegen solche Zuschreibungen, lasst sie euch gefallen. Ich habe gelegentlich Anlass gehabt, mein Lebensgefühl so zu beschreiben: Ich bin mehr das, was in mir gesehen und was mir zugeschrieben wird, als das, was ich wirklich bin.
Bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde in Münster an Sie gab es eine Laudatio. Finden Sie sich in deren Zuschreibung wieder?
Barth: Ja, ungeteilt. Es ist - lassen Sie es mich so ausdrücken - eine Lobrede, auf die kann ich mit Amen antworten.
"Es wären keine menschlichen
Verhältnisse, wenn wir das Ziel verfolgen
würden, möglichst nur die fehlerfreien
Menschen zu beschäftigen."
Herr Barth, Sie leiden seit längerem unter der Parkinson-Krankheit. Was hat Sie bewogen, weiter im Amt zu bleiben?
Barth: Der Rat hatte mich schon in das Amt des Präsidenten des Kirchenamtes berufen, aber ich hatte es noch nicht angetreten, als sich die Diagnose Parkinson mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestätigte. Ich habe den Rat über den ärztlichen Befund unterrichtet und ihm freie Hand gelassen, statt meiner eine - soweit sich das wissen lässt - gesunde und voll belastbare Person zu berufen. Der Rat blieb bei seiner Entscheidung, und erst von da an begleitete mich die Frage nach Gründen, das Amt als ein kranker Mensch wahrzunehmen. Über das Medizinische wusste ich wenig außer den Auskünften des behandelnden Arztes und dem, was ich mir als Information angelesen hatte. Der medizinischen Literatur entnahm ich, dass ohnehin jede Parkinsonsche Erkrankung einen individuellen Verlauf nimmt. Erst im Laufe der Jahre fand ich meine Antwort: Wir sind nicht alle kerngesund und uneingeschränkt leistungsfähig. Es wären keine menschlichen Verhältnisse, wenn wir das Ziel verfolgen würden, möglichst nur die fehlerfreien Menschen zu beschäftigen. So konnte ich den gelegentlichen Anfechtungen, ob ein Mensch, der Stress möglichst meiden muss, der Richtige für das Amt des Präsidenten ist, etwas entgegensetzen.
Das heißt anderen Mut machen ...
Barth: Ja, so könnte man sagen. Für denjenigen, dem als nächstem die Diagnose Parkinson mitgeteilt wird, wird es leichter, wenn er Menschen vor Augen hat, die sich mit dieser Krankheit nicht verborgen oder zurückgezogen, sondern im Maße des Möglichen damit öffentlich gelebt haben. Es ist immer ein Drahtseilakt in diesen Jahren gewesen, wie viel man als persönliche Sache in seinem Herzen verschließt und in welchem Umfang man darüber spricht. Ich habe das Letztere getan, weil ich glaube, dass wir lernen müssen, darüber zu reden. Das kann auch dem Parkinsonkranken helfen, den vergeblichen Versuch bleibenzulassen, die Krankheitssymptome zu verstecken.
Sind Sie auch angesprochen worden?
Barth: Generell gilt, dass Takt und Diskretion manchmal auch dort das Nachfragen stoppen, wo es allen Beteiligten gut täte. Vor lauter Rücksichtnahme gibt man dem anderen keine Gelegenheit zu sagen, wie es ihm geht. Eine mir sehr nahegehende Szene gab es 2006 bei meiner Amtseinführung. In dem Gottesdienst wirkte die damalige Synodenpräses Barbara Rinke mit. Sie war die einzige, die ein Bibelwort ausgesucht hatte, das in einer sehr einfühlsamen Weise meine gesundheitliche Situation thematisiert hat, und zwar mit dem Psalmwort aus Psalm 68: "Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch." Wer Ohren hatte zu hören, der verstand.
Hermann Barth stammt aus Ludwigshafen am Rhein, wo er am 12. November 1945 in einer Pfarrersfamilie geboren wurde. Nach dem Theologiestudium in Heidelberg, Edinburgh und Tübingen war er wissenschaftlicher Assistent am Alttestamentlichen Seminar der Universität Hamburg. Sein weiterer Werdegang führte ihn nach Promotion und Vikariat ins pfälzische Kerzenheim, wo er von 1978 bis 1985 Gemeindepfarrer war. Im EKD-Kirchenamt arbeitete er zunächst als theologischer Referent für Fragen der öffentlichen Verantwortung von Kirche. 1993 stieg er zum Vizepräsidenten der EKD-Zentrale auf und leitete die Hauptabteilung "Theologie und öffentliche Verantwortung", seit 2006 war er Kirchenamtspräsident.