Wohin gehört der Islam? Eine geografische Antwort

Wohin gehört der Islam? Eine geografische Antwort
Als Bundespräsident Christian Wulff am 3. Oktober die Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland postulierte, war die Aufregung groß. Erst als er am Dienstag in Ankara betonte, dass das Christentum zweifelsfrei zur Türkei gehöre, beruhigten sich die Gemüter wieder etwas. Bleibt die Frage: Wohin gehört der Islam?
21.10.2010
Von Jutta Wagemann

Der katholische Berliner Theologe Ernst Pulsfort hat genauer hingeschaut. Er hat in mühsamer und zumeist nächtlicher Kleinarbeit Zahlen zusammengetragen und in Karten überführt. In "Herders neuem Atlas der Religionen" lassen sich die Aussagen von Christian Wulff anhand von Farben überprüfen.

Die südlichen Mittelmeer-Anrainerstaaten bis zur Westküste Afrikas, die arabische Halbinsel sowie östlich davon bis Afghanistan - auf der Weltkarte alles dunkelrot. In diesen Ländern bekennen sich mindestens 90 Prozent der Bevölkerung zum Islam. Die Türkei gehört ebenfalls zu den dunkelroten Ländern.

In Frankreich, Russland und China sind nur noch fünf bis zehn Prozent Muslime. In Deutschland sind es weniger als fünf Prozent der Bevölkerung. Irrt der Bundespräsident?

Die meisten Muslime leben in Indonesien

Ganz anders wirkt die Ausbreitung des Islams, wenn sie in absoluten Zahlen dargestellt wird. Dann liegt Arabien nicht mehr an der Spitze. Indonesien (über 200 Millionen Muslime), Pakistan und Indien stellen die Top 3 in absoluten Zahlen - bei 1,1 Milliarden Menschen in Indien wenig verwunderlich. In Ländern wie der Türkei, dem Iran oder Ägypten sind es 50 Millionen bis 100 Millionen Muslime. In den USA, in Deutschland, Frankreich und Großbritannien immerhin eine bis fünf Millionen. Wulff hat also doch Recht?

Vielleicht hilft ein Blick in die Geschichte. Um 600 n. Chr., kurz vor Auftreten des Islams, waren Europa bis auf Skandinavien, die Türkei, der Nahe Osten, der nördliche Rand Afrikas und Regionen bis in den Sudan christianisiert. Selbst 750 n. Chr., als der Siegeszug des Islams bereits begonnen hatte, waren weite Teile Europas weiterhin christlich, auch die Türkei zum überwiegenden Anteil. In Zentralasien, auf der arabischen Halbinsel, in Nordafrika und im südlichen Spanien hatten allerdings bereits die Muslime das Sagen.

Die türkische Bevölkerung bekannte sich über Jahrhunderte hinweg etwa zu gleichen Teilen zum orthodoxen Christentum und zum Islam. Genauer gesagt waren es Sunniten, die in der Türkei lebten. Heute machen sie mehr als 90 Prozent der Bevölkerung aus. Die Christen in der Türkei befinden sich inzwischen unter der Fünf-Prozent-Marke. "Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei" - das belegt der Atlas sehr deutlich.

Am schnellsten wächst der Anteil der Religionslosen

Umgekehrt wird es schwieriger. Über die Jahrhunderte war der Islam nie bis Deutschland vorgedrungen. In Europa fasste er allein vorübergehend in Spanien Fuß sowie in einzelnen Staaten auf dem Balkan. Erst seit der "Gastarbeiter"-Zuwanderung in den 1960er Jahren gibt es Muslime in nennenswerter Zahl in Deutschland. 50 Jahre sind aber für die Verbreitung einer Religion kaum mehr als nichts. Daher rührte wohl das Unbehagen über den Satz von Christian Wulff. Dabei hatte er gesagt: "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland." Stimmt, wie ein Blick auf die Karte zeigt.

Die Zahl der Muslime nimmt im Übrigen stärker zu als die der Christen. Während die christlichen Religionsgemeinschaften 1899 noch einen weltweiten Anteil von rund 36 Prozent und die Muslime von 20 Prozent hatten, war der Anteil der Christen 2009 auf 32 Prozent zurückgegangen, der der Muslime auf 21,6 Prozent gestiegen.

Wem dieser "Vormarsch" des Islams Sorge bereitet, der sollte noch einen Blick auf eine andere Karte im Religionen-Atlas werfen: die Ausbreitung der Menschen ohne religiöses Bekenntnis. Ihr Anteil ist von 1899 bis 2009 stärker gewachsen als jede andere Religion. Besonders viele konfessions- und religionslose Menschen leben in kommunistischen Diktaturen wie China und Nordkorea. Ein weiterer Hort der Menschen ohne Bekenntnis ist - mit einem Anteil von 30 bis 40 Prozent - Deutschland.

epd

Ernst Pulsfort: Herders neuer Atlas der Religionen. Herder-Verlag Freiburg 2010, 160 S., 36 Euro.