Am Dienstag, dem 14. September 2010, ist etwas Entscheidendes passiert: Ausgerechnet in der Haushaltsdebatte des Bundestags ereignete sich nicht mehr und nicht weniger als ein Paradigmenwechsel in der Auseinandersetzung um Stuttgart 21. "Die Bundeskanzlerin stellt sich hinter den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs - überraschend und ohne Not", wunderte sich die "Süddeutsche Zeitung".
Auf dem Mainzer CDU-Landesparteitag legte Merkel nach: Das Bahnprojekt sei keineswegs bloß eine regionale Angelegenheit, sondern besitze europäische Dimensionen. Indirekt verknüpfte sie das politische Schicksal ihrer Parteifreunde im Südwesten mit dem Ausgang des Streits und erklärte die bevorstehende Landtagswahl in Baden-Württemberg zur Volksabstimmung über das umstrittene Vorhaben.
Der Irrtum der Gegner
Im Kern zeigt das den Projektgegnern: Sie haben sich geirrt. In Stuttgart geht es nämlich nicht um Politik. Es geht um massive Industrieinteressen. Bislang waren sie davon ausgegangen, Tiefbahnhof und Schnellstrecke seien politische Entscheidungen und als solche umkehrbar - egal, in welchem Bauabschnitt man sich gerade befindet. Sie hofften auf eine umfassende Proteststimmung im Land, die alle Schichten erfasst und die Entscheidungsträger zum Einlenken bewegt.
Die Hoffnung hat sich erfüllt; kaum jemand im Schwabenland und darüber hinaus vertritt noch aus vollem Herzen die Milliardeninvestition. Lieber ein (wenn es sein muss, auch teures) Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende und eine Investitionsruine, für die noch unsere Enkel zahlen müssen - so lautet die herrschende Meinung im Volk.
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Der grundlegende Irrtum aber bleibt. Gehen wir davon aus, dass Politiker per se an der Macht hängen, weil das Ausüben von Macht, nämlich das Regieren, ihr höchstes Ziel ist, dann drängt sich die Frage auf: Warum rast die baden-württembergische Landesregierung unter Ministerpräsident Stefan Mappus mit wehenden Fahnen in den Abgrund einer vernichtenden Wahlniederlage? Nicht zuletzt das unerbittliche, teils brutale Vorgehen der Polizei bei der Räumung des Baugeländes gegen friedliche Demonstranten jedes Alters zeigt, dass es um mehr geht als um Machterhalt. Die maßgeblichen Interessen überragen jedes Wahlkalkül.
Die Lobbys regieren
Nach den jüngsten Entscheidungen der Bundesregierung zugunsten von Stromkonzernen (denen Milliarden an Umweltabgaben erlassen werden), Krankenkassen (die auf Kosten der Arbeitnehmer voraussichtlich schon bald große Gewinne einfahren werden) und Arbeitgebern allgemein (die durch die künftige Deckelung der Sozialbeiträge geschont werden) brachte es ein Twitter-Slogan jüngst zu Berühmtheit: "Die kleine Angela möchte aus dem Lobbyisten-Paradies abgeholt werden." Treffender kann das herrschende Machtgefüge kaum auf den Punkt gebracht werden.
Ist es schon eine Verschwörungstheorie, wenn man unterstellt, dass bei einem Bauprojekt im Umfang zwischen fünf und 19 Milliarden Euro Kräfte wirken, gegen die der Einfluss eines Landesvaters auf Abruf geradezu niedlich erscheint? Nein, die Projektgegner müssen jetzt erkennen, dass sie sich nicht mit eitlen Provinzfürsten angelegt haben und auch nicht mit abgehobenen Bahnmanagern, sondern mit dem System des Profits.
Dessen Logik kulminiert beim Tiefbau in einer Branche, in der seit jeher Korruption, Vetternwirtschaft, halsbrecherische Finanzplanungen und politischer Klüngel regieren. Dass Ministerpräsident Mappus auf einen lukrativen Industrieposten spekuliert, wäre eine Unterstellung. Angesichts des früheren Bundeskanzlers, der heute kräftig an einer Gaspipeline verdient, der er zuvor politisch auf den Weg brachte, aber keine abwegige.
Weiter so - jetzt erst recht
Was bleibt den Gegnern? Sie kann kaum trösten, dass in einem halben Jahr die neuen Regierenden im Ländle Stuttgart 21 höchstwahrscheinlich stoppen. Bis dahin müssen sie auf die Einsicht der Landes-SPD hoffen, dass Umkehr auch mit der Gefahr des Gesichtsverlusts mitunter das ehrenwertere Vorgehen darstellt. Und sie müssen unvermindert - dabei weiterhin konsequent friedlich - protestieren, um das Ansehen ihrer Bewegung zu wahren.
Die Befürworter wiederum müssen hoffen, dass die Einsatzkräfte der Polizei keinen gravierenden Fehler machen. Schließlich waren es Bilder unschuldiger Opfer wie einst in Vietnam, die sogar halfen, Kriege zu beenden. Fatalerweise heißt das: Beide Seiten müssen weitermachen. Eine Annäherung scheint ausgeschlossen.
Das überrascht niemanden. Wie sehr sich die Politik privatwirtschaftlichen Interessen sogar um den Preis der Selbstaufgabe unterzuordnen bereit ist, das allerdings erschreckt in diesem sehr deutschen Herbst 2010.
Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.