Sozialkirche: Gemüse und Gebete schließen sich nicht aus

Sozialkirche: Gemüse und Gebete schließen sich nicht aus
Kann das funktionieren? Eine geweihte Kirche, in der Lebensmittel verteilt werden und Kaffee ausgeschenkt wird? In der sich Menschen treffen, die mit Religion sonst nie in Berührung kommen? In Deutschlands einziger Sozialkirche St. Matthäus in Kiel-Gaarden arbeiten Kieler Tafel, Stadtmission und Pastor Hand in Hand. Ein Besuch bei Menschen, die Mut zu etwas ganz Neuem haben.
28.09.2010
Von Dorothea Heintze

Kiel-Gaarden, St.-Matthäus-Kirche, Donnerstagmorgen 10.30 Uhr. Auf dem Platz vor der Kirche stehen ein paar Tische und Stühle, eine Handvoll Menschen im Gespräch. Ein alter Schultisch dient als erste Anlaufstelle, hier bekommt Jürgen Reimers seine Nummer: 105. Er geht in die Kirche. Dort, wo früher Kirchenbänke standen, findet sich heute ein quadratischer, verglaster Ladenraum mit großen Fenstern. Darin ein Tresen, dahinter Borde und Tiefkühlgeräte voller Lebensmittel: Brot, Joghurt, Käse, Obst, Gemüse, Schokolade, Kekse. Männer und Frauen in grünen Schürzen verteilen die Lebensmittel. Die Kunden warten geduldig am Eingang in einer Schlange, bis sie dran sind, und gehen dann reihum von Ausgabestelle zu Ausgabestelle. Es geht lustig zu. Einer der "Schürzenträger" wirft eine Tüte Chips über den Tresen: "He Karl, für den nächsten Fußballabend." Karl grinst und steckt die Tüte in seine Einkaufsbuggy.

"Ich bin hier der Mann für die Schnittchen"

Jürgen Reimers hat noch Zeit, gerade wird die Nummer 86 aufgerufen. Statt sich in die Schlange einzureihen, holt er sich in der Cafeteria erst einmal einen Kaffee und ein Stück Kuchen für je 30 Cent. Natürlich gibt es einen kostenlosen Schnack dazu. Man kennt sich. Der 65-jährige Frührentner mit einer schwerkranken Frau zu Haus kommt seit Monaten jede Woche mindestens einmal hierher, um Lebensmittel abzuholen und sich zu unterhalten. Bernd Gerdau, 56 Jahre alt, früher Groß- und Außenhandelskaufmann und jetzt Hartz-IV-Empfänger, steht täglich fünf Stunden in der Cafeteria, schmiert Brote, kocht Kaffee und verdient sich damit einen Euro pro Stunde: "Ein-Euro-Sklave" nennt er sich, doch was sich wie schimpfen anhört, ist nicht so gemeint. Bernd Gerdau ist glücklich mit seiner Aufgabe und fühlt sich ganz in seinem Element: "Ich bin hier der Mann für die Schnittchen", lacht er. Ist ihm eigentlich klar, dass er hier in einer geweihten Kirche steht? "Na sicher", nickt Gerdau. Aber: "Das stört mich nicht. Ich bin liberal."

Für Elke Neumann dagegen ist genau dies der ausschlaggebende Punkt. "Wissen Sie, das fällt mir schon sehr schwer, auf Almosen angewiesen zu sein. Aber hier, in einem Haus Gottes ist das etwas ganz anderes. Ich fühle mich als Christin angenommen und aufgehoben." Wie Jürgen Reimers kommt auch sie jede Woche hierher zum Laden der Kieler Tafel in die St.-Matthäus-Kirche, um sich Lebensmittel abzuholen. Oft geht sie nach hinten in den Andachtsraum, sucht ein paar Minuten der Stille und des Gebets oder unterhält sich mit Pastor Matthias Ristau. Manchmal nimmt sie auch an den Andachten teil.

Am Wochenende ist die Kirche geschlossen

Die St.-Matthäus-Kirche in Kiel-Gaarden ist die erste Sozialkirche Deutschlands. Sozialkirche, das heißt: Es gibt eine Lebensmittelausgabe der Kieler Tafel, eine Betreuungsstelle der evangelischen Stadtmission mit Cafeteria und Beratungsstelle − und das alles in einer geweihten Kirche, mit Andachtsraum, großem Kreuz, einer Orgel und regelmäßig stattfindenden Andachten. Laden und Beratungsstelle sind täglich bis 14 Uhr geöffnet; nachmittags organisiert die Kirchengemeinde verschiedene Stammtische und Treffpunkte. Am Wochenende ist die Kirche geschlossen, sonntägliche Gottesdienste finden nicht mehr statt.

Finanziert wird das Ganze durch ein Mischmodell: Die Stadt Kiel fördert das Projekt auf fünf Jahre mit 500.000 Euro aus dem Sondertopf "Soziale Stadt". Von diesem Geld kann die Stadtmission Cafeteria und Beratungsstelle betreiben. Die Tafel zahlt Betriebs- und Unterhaltskosten des Ladens. Die Gemeinde gab 30.000 Euro für den Umbau dazu und kümmert sich um den Erhalt der Kirche.

Jeder Tafelkunde hat das Recht auf einen wöchentlichen Besuch. Auf einer Karte wird der akribisch abgezeichnet. An diesem Vormittag sind vielleicht 150 bis 170 Menschen in der Kirche, an die 700 Kunden kommen pro Woche. Zum Monatsende steigt die Zahl an: Dann sei das Arbeitslosengeld aufgebraucht, berichtet Barbara Kotte, Vorsitzende des Vereins Kieler Tafel. Sie ist glücklich über das Projekt: "Das ist eine ideale Kooperation. Wir können hier viel mehr bieten als nur eine Lebensmittelausgabe."

Wenn die Orgel erklingt, werden alle im Raum stiller

Seit die Kieler Tafel in der Sozialkirche angesiedelt ist, kommen mehr Kunden. Ernst Lemke, Leiter der evangelischen Stadtmission, stimmt zu: "Wir staunen täglich, wie gut hier alle kooperieren." 30 Ein-Euro-Jobber beschäftigt die Mission, dazu gibt es eine Sprechstunde für jeden, der Bedarf hat: "Wir sind hier im Stadtteil zu einer echten Anlaufstelle geworden", freut sich Lemke.

Und was sagt der Pastor, was sagt die Gemeinde dazu, dass in ihrer Kirche nun Wurst und Käse über den Tresen wandern, dass hier täglich Dutzende von Menschen anzutreffen sind, die nicht unbedingt etwas mit Kirche oder mit dem Glauben im Sinn haben? Pastor Matthias Ristau, der sich aus Brasilien auf die Stelle bewarb, sieht sich in Gaarden vor allem als Seelsorger und Streetworker gefordert. Manchmal beschleicht ihn das Gefühl: "Im Sinne der Bibel bin ich hier viel aktiver, als ich es in meiner vorherigen Gemeinde war. Ich kümmere mich um die Armen, die Vernachlässigten. Ich höre ihnen zu, und ich stärke sie mit Gottes Wort." Sicher, zur wöchentlichen Andacht erscheinen manchmal nur zwei Menschen, manchmal gar
keiner. Aber wenn die Orgel erklingt, und alle im Raum stiller werden, dann sind das ganz besondere Momente.

Ristau ist fast täglich in der Kirche, er trägt immer ein Namensschild um den Hals, auf dem dick das Wort Pastor zu lesen ist: "Als ich hier anfing, dachte ich, ich würde die meiste Zeit nur so herumstehen." Weit gefehlt: "Es gibt Menschen, die realisieren, dass sie zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder in einer Kirche sind. Sie sprechen mich an und fassen Vertrauen." Dietrich Pöhls, seit 1995 Kirchenvorstandsmitglied in Gaarden, ist "stolz", wenn er heute in die Kirche kommt. Natürlich gab es vor einigen Jahren bei vielen in der Gemeinde große Bedenken gegen das Sozialprojekt. Doch die Alternative hieß: die Kirche schließen.

Die Sozialkirche ist ein Erfolg, aber kein Grund zur Freude

Drei Kirchen aus den sechziger Jahren stehen in Kiel-Gaarden in direkter Nachbarschaft. Früher verzeichnete man in dem alten Arbeiterviertel an die 15.000 Gemeindemitglieder, heute sind es in den drei zu einer Gemeinde fusionierten Kirchen nur noch 1.500. Gaarden gilt als sozialer Brennpunkt, mit hoher Ausländerdichte und Arbeitslosigkeit. "Die Gottesdienste waren kaum besucht, hier fand einfach nichts mehr statt", erinnert sich Pöhls. Als dann unter dem damaligen Pastor die Idee aufkam, eine Sozialkirche zu gründen, sah man einen Weg: "Uns war wichtig", so Pöhls, "dass es die Kirche weiter
gibt." Eine Hemmschwelle war die Finanzierung. Doch als klar war, dass die Stadt Kiel die Kosten für die Ein-Euro-Jobber und das Beratungszentrum übernehmen würde, gab es kaum noch Diskussionen.

Für alle sei das Projekt ein Experiment, sagt Pöhls. Ein Experiment mit Auswirkungen. In der Schwesterkirche St. Markus unterhalten ehrenamtliche Gemeindemitglieder schon länger einen sozialen Mittagstisch. Seit es den Tafelladen in St. Matthäus gibt, kommen auch hier Tag für Tag mehr Menschen zum Mittagessen. Ist die Sozialkirche ein Erfolg? Ja, sicher, doch kein ungetrübter, darüber sind sich alle Beteiligten einig. Pfarrer Ristau zitiert den Kieler Propst Thomas Lienau-Becker: "Die Sozialkirche ist kein Grund zur Freude, denn es ist beschämend, wie viele Menschen auf Hilfe angewiesen sind. Aber sie ist ein real gewordener Ort der Hoffnung und damit im tiefsten Sinn Kirche."


Der Text von Dorothea Heintze ist erstmals erschienen in "KiBa aktuell 3/2009", dem Newsletter der Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in Deutschland (Stiftung KiBa).