"Nu, bist du die Pilgerin?" Der kleine Junge auf dem Rad sächselt perfekt und freut sich augenscheinlich, mich zu treffen. Ja, recht hat er, ich bin die Pilgerin, die vor ungefähr einer Stunde seine Mutter angerufen hatte. Ich habe mich verlaufen auf dem Weg zu meiner Herberge ins sächsische Neubelgern. Doch in dem hervorragend ausgearbeiteten Pilgerführer findet sich eine Handynummer und eine freundliche Stimme lotst mich in die richtige Richtung. Wie viel bin ich heute gelaufen? 20, 25 Kilometer? Oder mehr. Jeder Schritt tut mir weh, ich bin fix und fertig. Umso mehr freut mich der Anblick des Jungen auf seinem Rad. Ich habe es geschafft.
Vertrauen in die unbekannten Gäste
Am Eingang des kleinen Privathauses wartet schon seine Mutter Ulrike Selandi und stellt sich als Nachbarin der Herbergsmutter vor, die noch auf Reisen sei. Sie schließt auf, führt mich in die erste Etage. Dort befindet sich der Aufenthaltsraum für Pilger. In der Küche kann ich mir eine Dosensuppe warm machen, es gibt Brot, frisches Gemüse und Aufschnitt im Kühlschrank. Im zweiten Stock dann zwei Schlafzimmer mit insgesamt vier Betten, ein kleines Bad. Alles tipptopp sauber, ordentlich und einladend. Ich bekomme noch ein kühles Bier aus dem Keller, dann bin ich allein.
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Was für ein Vertrauen! Niemand kennt mich hier, und doch werde ich mit offenen Armen empfangen. Ich mache mir mein Abendbrot, dann gehe ich noch mal zur Familie Selandi hinüber. Der siebenjährige Manvir hat Besuch von seinen Cousins, sie erzählen mir von der Schule, seine Mutter von den Pilgern. Gestern seien vier aus Hessen hier gewesen. Ob sie das nicht störe, immer diese Fremden auf dem Gelände? Keine Spur. "Das ist doch interessant. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Menschen kennengelernt." Es kommt der Onkel und holt seine Kinder ab. Keiner wundert sich über mich. Wir reden noch ein wenig miteinander. Doch ich bin todmüde, gehe bald rüber und schlafe um acht tief und fest in meinem Schlafsack.
Pilger sagen Du zueinander
Als ich am nächsten Morgen um sechs Uhr leise ins Bad tapse, höre ich unten in der Küche Geschirr klappern. Waltraud Schönborn, die Herbergsmutter, kommt die Treppe hoch. "Guter Pilgerbrauch" sei es, dass man Du zueinander sage. Sie reicht mir die Hand: "Herzlich willkommen." Ohne Frühstück lässt sie keinen Pilger ziehen, also bekomme ich jetzt noch ein weiches Ei, Tee und selbst gekochte Marmelade.
2003 wurde der Ökumenische Pilgerweg von Sachsen nach Thüringen eröffnet. Die Organisatoren suchten Herbergseltern auf der Strecke. Ganz bewusst sollten darunter nicht nur Kirchgemeinden, sondern auch Privatleute sein. Solche, wie Waltraud und ihr Mann. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre arbeitslos: "Weißt du, er hatte plötzlich ein neues Lebensziel", erzählt sie mir. Wenn Pilger sich verlaufen hatten, dann holte er sie mit dem Auto ab – oder er brachte vergessene Wasserflaschen hinterher. Beide waren schon zu DDR-Zeiten engagierte Christen. Als "Herbergseltern" trafen sie auf Gleichgesinnte, viele aus den alten Bundesländern.
2006 starb ihr Mann und Waltraud stand allein da. Die Pilgerherberge aufgeben? Kam nicht infrage: „Die Pilger haben mich auch getröstet. Sie haben mir von ihrem Leben, von ihrer Trauer erzählt.“ Und so machte Waltraud weiter. Wenn sie nicht da ist, bekommt Nachbarin Ulrike das extra gekaufte Handy. Haben die beiden denn nie Angst, dass mal jemand was klaut? „Ach weißt du, alles, was man hier mitnimmt, muss man schleppen.“ Nein, schlechte Erfahrungen habe sie nicht gemacht. Auch nicht mit der Bezahlung: Jeder hinterlasse eine freiwillige Spende in der Pilgerkasse im Aufenthaltsraum, zwischen 3 und 5 Euro pro Nacht.
Die Saison geht bis Ende Oktober
In der Regel dauert die Pilgersaison von Mai bis Ende Oktober. Im ersten Jahr kam alle paar Wochen mal ein Wanderer vorbei, in diesem Sommer waren es bis Ende Juni schon 86. Waltraud erzählt, dass entlang des Weges immer mehr Herbergen öffnen, im benachbarten Gröditz werde gerade das Schloss von einem privaten Investor saniert – auch der wolle den Pilgern Übernachtungsmöglichkeiten bieten. Jeder Gast ist Waltraud gleich wichtig: „Mein Kapital ist Zeit“, sagt sie. Im Gästebuch lese ich, wie warmherzig sich die Frauengruppe aus Köln oder der Pilger aus Berlin bei Waltraud aufgenommen fühlten. Da gibt es Postkarten von denen, die von hier aus bis nach Santiago de Compostela gekommen sind. Und von jedem macht Waltraud ein Abschiedsfoto, so auch von mir. Anschließend gibt sie mir einen Pilgersegen mit auf den Weg, dann geht es weiter.
Ich laufe und laufe und laufe. Wenn ich nicht gerade träume, kann ich mich nicht verlaufen, alle paar Hundert Meter gibt es ein Hinweisschild: gelbe Jakobsmuschel auf blauem Grund. Die Landschaft ist traumhaft, die Wege romantisch, über Stunden hinweg treffe ich keinen Menschen. Kirchtürme tauchen am Horizont auf und bieten wunderbare Wegmarken. Die meisten sind geöffnet, gerne lege ich dann eine kleine Pause ein. Ich denke an meine Freundin Elke. "Pilgern gehst du?", fragte sie: "So ein Quatsch. Wir nannten das früher wandern. Und gut war’s." Pilgern? Wandern? Je länger ich unterwegs bin, desto klarer wird mir: Liebe Elke, es gibt doch einen Unterschied.
Aus dem Schulhaus wurde eine Herberge
"Ach herrlich, eine Pilgerin! Kommen Sie herein!" So klang es gestern im kleinen Ort Buchholz. Da hatte ich an der Gemeindehaustür geklingelt, weil mein Trinkwasser ausgegangen war; zum Glück hat auch Buchholz eine Pilgerherberge. Pfarrer Helmut Törne ist seit einem Monat im Ruhestand, doch um die Pilger kümmert er sich gerne. Gerade wurde gegenüber der Kirche das alte Schulhaus als wunderschöne neue Herberge eröffnet. Begeistert erzählt Helmut vom Vorabend. Da feierte man mit über 60 Dorfbewohnern das fünfjährige Jubiläum des Ökumenischen Pilgerweges. An jeder Station stiegen um 22 Uhr beleuchtete Papierballone in die Luft. Eine Lichterkette sollte entlang des gesamten Weges zu sehen sein, in Buchholz hat es geklappt, am klaren Sommerhimmel waren einige Ballons von anderen Stationen sichtbar. Für Pfarrer Törne ist der Pilgerweg eine Erfolgsgeschichte, aber nicht nur, weil die Zahl der Pilger stetig steigt: "Als wir anfingen, da war man im Dorf wirklich skeptisch: Das sind doch alles nur Tippelbrüder." Doch das habe sich geändert: "Ich merke in Gesprächen, wie die Sesshaften anfangen, darüber nachzudenken, was die Pilger antreibt. Warum geht man auf die Suche nach sich selbst? Was kann man finden?"
Einige Kilometer östlich liegt der verwunschene Gemeindehof der Kirche von Arnsdorf. Die Gemeinde Arnsdorf ist weit über die Region hinaus bekannt für ihre Aktivitäten. Alle Jahre wieder gibt es vielbeachtete Filmwochen in der ausgebauten Scheune. Und natürlich ist diese wunderschöne Kirche mit ihren alten Hofgebäuden auch ein Ziel für die Pilger. Auch Pfarrer Andreas Fünfstück und seine Frau Anette sind seit der Einweihung des Pilgerweges als Herbergseltern dabei. Oben auf der Galerie haben sie ein Pilgerzimmer mit zwei Betten eingerichtet, dazu einen kleinen Aufenthaltsraum und viele Matratzen. Manchmal kommen Schülergruppen vorbei, manchmal will es der Zufall, dass acht Pilger unangemeldet eintreffen. Keiner soll abgewiesen werden, und so baut man nun noch zwei weitere Zimmer in der Remise aus. In der Gemeindeküche finden sich der Pilgerkühlschrank und große Vorratsboxen, mit Brot, Fertigsuppen, Keksen und vielem mehr. Die "Kasse des Vertrauens" steht daneben.
Impulse und Leben durch Pilger
Auch die Fünfstücks haben längst ein Nachrichten- und Schlüsselübergabesystem mit den Nachbarn im Dorf entwickelt. Die Pilger, so empfinden sie es beide, brächten nicht nur Leben in diese strukturschwache Region, sondern auch einen "geistlichen Impuls": Zu den Gemeindefesten, so Andreas Fünfstück, seien schon immer viele Nichtkirchenmitglieder gekommen. Vielleicht auch deshalb, so mutmaßt er, weil in Arnsdorf immer so lecker und preiswert gekocht wird. Mittlerweile kommen viele auch aus anderen Gründen. Die Fremden, die in immer größerer Zahl mit Rucksack und Pilgerführer durch das Dorf laufen, um Trinkwasser bitten, nach dem Weg fragen und sich dann für eine halbe Stunde in die offene Kirche für ein Gebet oder einfach nur eine Ruhepause zurückziehen, die machen neugierig.
Beim diesjährigen Gemeindefest war die Kirche zur nächtlichen Andacht aus Anlass des fünfjährigen Jubiläums der Ökumenischen Pilgerweges gerammelt voll. Und Pfarrer Fünfstück weiß: "Das waren längst nicht nur aktive Gemeindemitglieder."
Der Text von Dorothea Heintze ist erstmals erschienen in "KiBa aktuell 3/2008", dem Newsletter der Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in Deutschland (Stiftung KiBa).