Sarrazin-Thesen: Vom Schlagabtausch zur Sachlichkeit

Sarrazin-Thesen: Vom Schlagabtausch zur Sachlichkeit
Sachliche Integrationsdebatte gefordert: CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach hat die Debatte um Sarrazin als "hysterisch" kritisiert. Präses Schneider erkennt ein Umdenken in der Integrationspolitik.

Nach dem heftigen Schlagabtausch über die Thesen Thilo Sarrazins werden Rufe nach einer sachlichen Auseinandersetzung mit Integrationsproblemen laut. Bundespräsident Christian Wulff wies darauf hin, dass die Vielfalt in der Gesellschaft wachse. Eine Trennung in Deutsche und Ausländer werde der Realität immer weniger gerecht, sagte Wulff der Mainzer "Allgemeinen Zeitung" (Freitagsausgabe). Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) warnte vor einer ausgrenzenden Debatte. Entscheidend sei, die Integrationsdebatte lösungsorientiert zu führen.

Auch die anderen Parteien forderten eine intensive Auseinandersetzung mit der Integrationsproblematik. Eine Umfrage ergab, dass die Mehrheit der Bevölkerung Sarrazins Einstellungen zu Zuwanderung nicht teilt.

Mangelnde Bereitschaft zur Integration

Bundesbank-Vorstand Sarrazin hatte Muslimen eine mangelnde Bereitschaft zur Integration vorgeworfen. Die muslimischen Einwanderer hätten Deutschland mehr gekostet, als sie wirtschaftlich eingebracht hätten. Das SPD-Mitglied fordert in seinem gerade veröffentlichten Buch schärfere Maßnahmen gegen integrationsunwillige Muslime. Zudem verbreitete Sarrazin die These, dass alle Juden ein bestimmtes Gen teilten. Die Bundesbank hatte am Donnerstag beschlossen, sich von Sarrazin zu trennen.

Wulff warnte vor Verallgemeinerungen, die auf kulturelle, religiöse oder ethnische Gruppe abzielten. "Sie richten sogar großen Schaden an", sagte der Bundespräsident. Es sei besser, sich zunächst näher kennenzulernen. Er bedauerte, dass die große Vielfalt unter den Muslimen in vielen Diskussionen keine Rolle spiele. Das Bundespräsidialamt bat unterdessen die Bundesregierung um eine Stellungnahme für die Prüfung der Abberufung Sarrazins vom Vorstandsamt der Bundesbank.

Frage der Zeit

De Maizière sagte, in der Integrationspolitik gebe es nicht eine Art Urknall, mit dem schlagartig alle Probleme gelöst seien. Es dauere lange, bis sich menschliches Verhalten ändere. Die ganze Gesellschaft habe die Folgen der Einwanderung nach Deutschland unterschätzt. Der Innenminister verwies zugleich auf politische Maßnahmen wie verpflichtende Integrationskurse oder Initiativen wie den Integrationsgipfel und die Deutsche Islamkonferenz. Es habe sich bereits viel verändert. Noch in diesem Jahr will die Bundesregierung zu einem weiteren Integrationsgipfel einladen, sagte ein Sprecher der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer (CDU).

Die bayerische FDP-Landesvorsitzende Sabine Leutheusser-Schnarrenberger forderte ebenfalls eine rationale Integrationspolitik. Es sei unstreitig, dass die Integration von Migranten in Deutschland nicht problemlos verlaufe. Deshalb brauche Deutschland aber keinen Polarisierer, sondern müsse die Integrationsdebatte mit Inhalten und Vernunft gestalten, sagte die Bundesjustizministerin. Zuwanderung sei wegen der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels notwendig.

Aufbruch zu vernünftiger Integrationspolitik

In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid für das Nachrichtenmagazin "Focus" verneinten 63 Prozent die Frage, ob Deutschland durch ungesteuerte Einwanderung dümmer werde. 31 Prozent der Befragten teilten diese These Sarrazins.

Nach Ansicht des amtierenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, gibt es bereits einen Aufbruch zu vernünftiger Integrationspolitik. Die Politik sei aufgewacht, nachdem fast 40 Jahre nichts geschehen sei. Der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" (Freitagsausgabe) sagte Schneider.

Der innenpolitische Sprecher der SPD, Dieter Wiefelspütz, sagte der "Neuen Osnabrücker Zeitung", Integration sei "das Mega-Thema der nächsten Jahre". Es müsse mit mehr Nachdruck vorangetrieben werden. Obwohl Deutschland besser als viele andere EU-Länder dastehe, sei das Machbare längst nicht erreicht, kritisierte er.

Türkei begrüßt Klarstellung

Die migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Sevim Dagdelen, sagte, die soziale Situation von vielen Migranten sei kein Schicksal, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Politik. Eine Integrationspolitik, die integrieren wolle, müsse eine gleichberechtigte soziale, politische und gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen zum Ziel haben und dafür die Bedingungen schaffen.

Die türkische Regierung begrüßte die Klarstellung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Debatte über Sarrazin. Ankara sei erfreut über die "rasche und klare" Stellungnahme der Kanzlerin, sagte ein hochrangiger Beamter des türkischen Außenministeriums dem Berliner "Tagesspiegel" (Samstagsausgabe). Merkel hatte sich in der türkischen Zeitung "Hürriyet" von Sarrazin distanziert und dessen Äußerungen als "Unsinn" bezeichnet. Die Türkei sei besorgt über "Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Europa", sagte der türkische Außenamtsbeamte.

epd