Die Landkarte, im abgedunkelten Gerichtssaal an die Wand projiziert, zeigt die Krim mit den Frontlinien der deutschen Truppen und der Roten Armee anno 1942. Ein US-Militärhistoriker erläutert anhand der Karte den Kriegsverlauf. Tief in die Geschichte taucht das Landgericht München II ein, das derzeit die Wahrheit in der Frage einer möglichen Mitschuld des Ukrainers John Demjanjuk bei der Ermordung zehntausender Juden durch die Nazis sucht. Auf der Krim wurde der Rotarmist von den Deutschen gefangen genommen. Später soll er im SS-Lager Trawniki zum Wachmann ausgebildet worden sein und 1943 bei der Ermordung von 27.900 Juden in den Gaskammern des Vernichtungslagers Sobibor geholfen haben.
Immer wieder seit den 70er Jahren geriet der heute 90-Jährige wegen möglicher Beteiligung an NS-Verbrechen ins Visier der amerikanischen, israelischen und - seit 2008 - deutschen Justiz. Acht Jahre verbrachte er im Gefängnis, fünf davon in der Todeszelle in Israel wegen angeblicher Taten im Vernichtungslager Treblinka - doch am Ende wurde er freigesprochen.
Stets hat Demjanjuk alle Vorwürfe bestritten. Seit 30. November 2009 zieht sich der Münchner Indizienprozess hin, den der an einer Knochenmarkserkrankung leidende Angeklagte scheinbar dösend im Bett neben der Richterbank verfolgt. Nach der Sommerpause sind vom 13. September an Verhandlungstermine bis Weihnachten angesetzt dass das reicht, glaubt kaum jemand.
Mehrfach platzten Verhandlungstage, weil sich Demjanjuk unwohl fühlte, auf ärztliche Anweisung darf sowieso pro Tag nur drei Stunden verhandelt werden. Und Anwalt Ulrich Busch überzieht das Gericht mit einer Antragsflut, verlangt die Beiziehung zahlreicher Dokumente. Das Gutachten des Militärhistorikers habe 57 Fußnoten, die auf Quellen verwiesen, und diese Quellen seien der Verteidigung zur Vorbereitung nicht zugänglich gemacht worden, moniert er dieses Mal.
Busch erwartet, dass der Prozess zwei bis drei Jahre dauern wird. Das Gericht hat umfangreiches Material zu bearbeiten. Frühere Ermittlungen und Verhöre längst gestorbener Zeugen werden herangezogen, auch das Urteil aus Jerusalem von 1988 soll verlesen werden. Damals war Demjanjuk als "Iwan der Schreckliche" von Treblinka wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 800.000 Juden zum Tode verurteilt worden, 1993 wurde er freigesprochen - er war verwechselt worden. Jüngst stiftete Busch Verwirrung mit der Hypothese, Demjanjuk könnte unter Umständen doch in Treblinka gewesen sein, etwa als Koch - und hätte so ein Alibi für Sobibor.
Eine Verurteilung Demjanjuks wäre eine Wende in der Rechtsprechung. Denn eine konkrete Tat ist ihm nicht nachzuweisen. Dieser "eherne Grundsatz" des Strafrechts bedürfe im Fall der "industriell durchgeführten Massentötung" der Nazis einer Modifizierung, argumentiert Thomas Walther, der als ermittelnder Richter bei der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg das Verfahren ins Rollen brachte. "Das Vernichtungslager lässt keine anderen Möglichkeiten zu, als an dieser Tat beteiligt zu sein. Das Vernichtungslager selbst ist die Tat." Ähnlich sieht es die Münchner Staatsanwaltschaft. "Die Anwesenheit in Sobibor bedeutet, das er mindestens Beihilfe geleistet haben muss", sagt Staatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch.
In den 60er Jahren beurteilte die deutsche Justiz das noch anders. Damals kamen im Sobibor-Prozess deutsche SS-Männer - Vorgesetzte und Befehlshaber der Trawniki - mit Freispruch wegen Befehlsnotstands davon. Während sie sich erfolgreich darauf beriefen, auf Befehl von oben gehandelt zu haben, soll Demjanjuk als Wachmann im untersten Dienstgrad nun für den Massenmord Verantwortung übernehmen. Für Walther war die Justiz damals jedoch auf dem Irrweg. "Es gibt keinen Anspruch darauf, dass eine falsche Sichtweise in der Justiz so fortbesteht, nachdem der juristisch-dogmatische Denkfehler erkannt wurde."
Für Busch hingegen ist das Verfahren verfassungswidrig: "Es muss mit Freispruch enden." Ein deutsches Gericht sei gar nicht zuständig, da sein Mandant kein deutscher Amtsträger gewesen sei, und die Höchststrafe von 15 Jahren für Beihilfe zum Mord habe er sowieso längst abgesessen. Allein die fünf Jahre Todeszelle reichten aus für Busch zählen sie dreifach.
Wie schlecht es Demjanjuk gesundheitlich geht, ist nicht ganz klar. Nach seiner Abschiebung aus den USA im Mai 2009 haben sich seine Blutwerte laut dem prozessbegleitenden Arzt Albrecht Stein nicht verschlechtert. "Er hat sich stabilisiert", sagt Stein."Geistig ist er hervorragend. Er hat keine Demenz."
Der Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, Wolfgang Benz, der eine Mittäterschaft Demjanjuks für möglich hält, glaubt, das Verfahren könnte auch mit der Verhandlungsunfähigkeit oder dem Tod des Angeklagten enden. Seine Hoffnung bei dem Prozess: "Dass Klarheit in die Sache kommt, dass wir noch ein bisschen mehr Aufschluss kriegen, was geschehen ist, was die Funktion der Trawniki-Männer war."