"Diese Gesellschaft lässt Kinder in Armut aufwachsen"

"Diese Gesellschaft lässt Kinder in Armut aufwachsen"
Armut, das bedeutet nicht nur Hunger. Gerade hierzulande zeigt sich Armut viel häufiger in Verwahrlosung, sozialer Ausgrenzung und mangelnden Bildungschancen als in Hungersnöten. Kinder leiden besonders unter dem Mangel und dem Stigma des "Versagens", das hierzulande Armut umgibt. Politikwissenschaftler Christoph Butterwege kritisiert im Interview, dass das Sparpaket die Falschen trifft und Armut nur über einen Strukturwandel gemindert werden kann.
25.06.2010
Die Fragen stellte Maike Freund

evangelisch.de: Warum gibt es in einem reichen Land wie Deutschland überhaupt Kinderarmut? Wo liegen die Ursachen?

Christoph Butterwegge: Eine wesentliche Ursache der gegenwärtigen Kinderarmut liegt in der Ökonomisierung, der Privatisierung und der Kommerzialisierung vieler Lebensbereiche. Damit verbunden ist, dass man immer mehr auf den Markt, auf Leistung und Konkurrenz setzt. Bei den Schwächeren und ganz besonders deren Kindern als Hauptverlierern führt dieser Prozess häufig zu Armut. Gleichzeitig gibt es Gewinner, die selbst in der gegenwärtigen Krise immer reicher werden. So nimmt die Zahl der Millionäre, Multimillionäre und Milliardäre weiter zu. Wir haben es folglich mit einer sozialen Polarisierung, also mit einem Auseinanderfallen der Gesellschaft zu tun, was enorme Gefahren in sich birgt.

evangelisch.de: Wo liegen die Probleme der Amrne, wenn sie nicht (ver)hungern?

Butterwegge: Armut in einem reichen Land bedeutet im Unterschied zu Armut in einem armen Land, dass die Armen von Wohlstand umgeben sind, der ihnen zeigt, dass sie "versagt" haben. Das heißt: Armut bei uns kann sehr viel bedrückender sein als Armut in einem so genannten Dritte-Welt-Land. Sie führt zur Stigmatisierung der Betroffenen, aber auch zur Entsolidarisierung unserer Gesellschaft.

evangelisch.de: Wieso?

Butterwegge: Armut in Deutschland geht damit einher, dass man als Kind vieles nicht hat, was für andere ganz normal ist. Daraus folgt soziale Ausgrenzung: Vielleicht wird man ausgelacht, weil man im Winter in Sandalen und Sommerkleidung herumläuft. Oder aber weil man bestimmte Konsumartikel nicht hat. Ausgelacht zu werden ist möglicherweise viel schlimmer, als abends ohne Essen ins Bett gehen zu müssen. Armut in Deutschland heißt zwar in den meisten Fällen nicht – wie in der sog. Dritten Welt – verhungern zu müssen. Trotzdem sollten wir uns nicht beruhigt zurücklehnen, wenn diese Gesellschaft, die noch nie so reich war wie heute, Kinder in Armut aufwachsen lässt.

evangelisch.de: Wie sieht Kinderarmut in Deutschland noch aus?

Butterwegge: Im Wesentlichen sind es Hartz-IV-Familien, die sich mit Transferleistungen durchschlagen. Aber vieles, was ein Kind haben möchte – das fängt beim Eisverzehr an und hört bei der Musikschule noch lange nicht auf – fehlt ihm unter diesen Bedingungen. Man kommt gerade so über die Runden, hat womöglich schon um die Monatsmitte enorme Schwierigkeiten, ein warmes Essen auf den Tisch zu bringen; es fehlt das Geld für das Mittagessen in der Kita, deshalb werden die Kinder zum Teil abgemeldet; man kann teure (eintägige) Klassenfahrten nicht bezahlen, also wird eine Krankheit vorgeschoben. Man hat eine kleine Wohnung, das wirkt sich auch negativ auf die Bildung aus, weil kein eigenes Zimmer für Hausaufgaben vorhanden ist. So gibt es unterschiedliche Erscheinungsformen, aber eines ist immer gleich: Den hohen Lebensstandard, den die meisten Familien haben, erreichen arme Kinder nicht.

"Armut bedeutet nicht bloß, wenig Geld zu haben" 

evangelisch.de: Wie müsste eine Politik aussehen, die Kinderarmut beseitigt?

Butterwegge: Gerade Kinder im Hartz-IV-Bezug müssten gefördert werden. Der spezielle Bedarf von Kindern sollte endlich berücksichtigt und die Sätze für Kinder deutlich erhöht werden. Die Regelsätze für Kinder von Hartz-IV-Beziehern liegen bei 215 Euro im Alter bis fünf Jahren, bei Schulkindern sind es 251 Euro und für die Kinder ab 14 gibt es 287 Euro pro Monat. Damit kann man ein Kind weder gesund ernähren noch gut kleiden, noch kann man es bilden oder an kulturellen Prozessen teilhaben lassen. Denn das zur Verfügung stehende Geld reicht nicht, um mit Kindern ins Theater, ins Kino und ins Museum zu gehen. Geld entscheidet aber in unserer Konsumgesellschaft, welche Chancen Kinder haben.

evangelisch.de: Was bedeutet das für Kinder und Jugendliche, wenn sie erwachsen sind?

Butterwegge: Es besteht die Gefahr, dass sich so etwas wie ein Teufelskreis der Armut herausbildet. Dass Kinder, die in Armut aufgewachsen sind, zu armen Erwachsenen werden. Sie bekommen wiederum arme Kinder und richten sich womöglich in den miesen Verhältnissen ein, in denen sie leben. Aufgrund der Regierungspolitik, zum Beispiel der im "Sparpaket" der Bundesregierung vorgesehenen Streichung des Elterngeldes, bleibt kaum Hoffnung, aus der Armutssituation herauszukommen. Und wer wenig Hoffnung hat, droht zu resignieren. Armut bedeutet nicht bloß, wenig Geld zu haben, sondern auch, struktureller Gewalt ausgesetzt und in fast allen Lebensbereichen benachteiligt zu sein. Das ist demütigend und führt dazu, dass sich die Betroffenen vom politischen System abwenden. Armut und Sozialabbau bedrohen deshalb die Demokratie.

evangelisch.de: Was bedeuten die angedachten Kürzungen durch das Sparprogramm der Regierung?

Butterwegge: Während den Wohlhabenden kaum Opfer abverlangt werden, sind die Armen an vier Punkten maßgeblich betroffen. Der erste ist die Streichung des Elterngeldes für Harz-IV-Bezieher. Bisher wurde das Elterngeld von ihnen verwendet, um eine vernünftige Erstausstattung für ein Kind zu beschaffen. Jetzt kommt das Signal von der Bundesregierung: eure Kinder wollen wir gar nicht, die von Besserverdienenden schon. Das fehlende Geld hat natürlich auch negativen Einfluss auf den Alltag der Kinder. Zweitens wird der Zuschlag beim Übergang vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II gestrichen und damit eine steile Rutsche in die Armut errichtet. Außerdem werden Hartz-IV-Empfänger aus der Gesetzlichen Rentenversicherung ausgeschlossen, indem man für sie keine Beiträge mehr entrichtet. Das vermehrt zumindest der Tendenz nach die Altersarmut und verlagert die Kosten dafür auf die Kommunen, die später mehr Geld für die Grundsicherung im Alter aufbringen müssen. Das bedeutet auch, dass die künftigen Generationen künftig mehr belastet werden, obwohl die Bundesregierung ihr Sparpaket damit begründet, sie entlasten zu wollen.

"Strukturelle Ursachen von Armut erkennen und erkämpfen"

evangelisch.de: Und viertens?

Butterwegge: Der letzte Punkt, der wahrscheinlich noch mehr ins Gewicht fällt, ist die Kürzung der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik, das heißt die berufliche Weiterbildung und Umschulung. Die bisherigen Pflichtleistungen in diesem Bereich werden umgewandelt in Ermessensleistungen. Indem man dort Mittel streicht, verurteilt man gerade junge Menschen und solche mit Behinderungen zu Langzeitarbeitslosigkeit, weil sie auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr Fuß fassen können. Damit vermehrt man gleichfalls die Armut.

evangelisch.de: Ist Kinderarmut ein Thema, das der Bevölkerung nicht bewusst genug ist?

Butterwegge: Ich bin fest davon überzeugt, dass die meisten Menschen wissen, dass Millionen Kinder in der Bundesrepublik arm sind. Aber ich glaube auch, dass es für Aussagen wie die des Vizekanzlers Guido Westerwelle, Hartz IV bedeute "anstrengungslosen Wohlstand", viel Sympathie gibt. Die Ansicht, dass es Hartz-IV-Empfängern gar nicht so schlecht gehe, dass sie leistungsunwillig seien und dass sie ihre Langzeitarbeitslosigkeit oder ihr niedriges Einkommen durch mangelnden Bildungswillen selbst verschuldet hätten, macht sie im Unterschied zu Kindern, denen kann man die Schuld nicht zuschieben kann, zu "unwürdigen Armen".

evangelisch.de: Die Vorstellung von den Armutsursachen ist also Ihrer Meinung nach eine falsche?

Butterwegge: Ja, denn man individualisiert das Problem, statt die strukturellen Ursachen zu erkennen und zu bekämpfen. Man erkennt Armut nicht als gesellschaftspolitisches Problem an, für das wir alle Verantwortung tragen, sondern hält es für ein persönlich verschuldetes Problem, das damit im individuellen Bereich jedes Einzelnen liegt. Bei einer solchen Sichtweise spendet man vielleicht in der Vorweihnachtszeit, aber man will nichts Grundlegendes an den Verhältnissen ändern, die Armut zwangsweise erzeugen.


Christoph Butterwegge, geboren 1951 in Albersloh in Westfalen, ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Köln. Einer seiner Forschungsschwerpunkte: Armut und Kindheit. Er studierte Sozialwissenschaft, Rechtswissenschaft, Psychologie und Philosophie in Bochum und habilitierte 1990 im Fach Politikwissenschaften. Es folgten verschiedene Lehrtätigkeiten, unter anderem an der FH Potsdam.