Die Heißzeit lässt die Leitmedien eher kalt

Die Heißzeit lässt die Leitmedien eher kalt
Die "Tagesschau" freut sich über neue "Temperaturrekorde". Die Medienfreiheit hat weltweit so stark abgenommen, dass die Türkei in der Reporter-ohne-Grenze-Rangliste nur um zwei Plätze fiel. Und die Begleitberichterstattung zur Fußball-WM wird aus Gründen, die auch nicht schön sind, besonders spannend.

Die Aufregungen und das Tempo, in dem sie sich in den Medien abwechseln, scheinen weiterhin laufend zuzunehmen, sowohl weltpolitisch als als auch in den Digital- und Medienressorts. So viele kontroverse Meinungen wie zur DSGVO – der ab 25. Mai endgültig gültig werdenden Datenschutzgrundverordnung – prallen selten aufeinander. Um dieses Thema wird's voraussichtlich nächste Woche hier gehen. Läuft die allergrößte Gefahr dagegen als lange schon abgehaktes, in puncto Neuigkeitswert vernachlässigenswertes Thema im Hintergrund?

Darauf deutet zumindest das Interview, das der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber gerade dem Feuilleton der "Süddeutschen" gab. Der in den Ruhestand gehende Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung spricht darin unter anderem von der Medienberichterstattung zum Thema, sozusagen vom Klimawandel im Fluss der Informationsflut: Heute

"herrscht eine seltsame Gelassenheit. Wir steuern im Irrsinnstempo auf eine unbeherrschbare globale Situation zu, die Risiken erhöhen sich quasi stündlich, aber viele Medien berichten nur noch mit gequälter Beiläufigkeit darüber. Gerade kam ein Weltbankbericht heraus: 140 Millionen Klimaflüchtlinge bis 2050, und zwar allein schon innerhalb der betroffenen Länder, ohne die grenzüberschreitende Migration. Klar, da gibt es eine Meldung in der 'SZ' und im 'Guardian', aber das war’s dann auch",

sagt er. Eindrücklich ist das Gespräch vor allem, weil es sich – selten in der Echtzeit-besessenen Gegenwart – um zeitenthobene Blickwinkel bemüht. So schildert Schellnhuber, wie die Gründung seines Instituts 1992 noch im Zeichen des Optimismus nach dem Fall der Berliner Mauer geschah, der sich in diesem Jahrtausend wandelte.

Später stellt Interviewer Alex Rühle die Frage "Wie wird die Geschichtsschreibung einst auf uns zurückschauen?".

"Als die Pest 1347 über Europa kam, wusste man nicht, woher das Unheil stammte, und es gab kein Heilmittel. Die Menschen waren völlig ratlos und verzweifelt. Heute wissen wir dagegen genau, was Sache ist. Trotzdem keine Reaktion zu zeigen, ist schändlich. Und sehr dumm. Man könnte die Situation mit einem leckgeschlagenen Schiff auf hoher See vergleichen. Natürlich gibt es auch neben dieser Havarie Probleme: Das Essen in der dritten Klasse ist miserabel, die Matrosen werden ausgebeutet, die Musikkapelle spielt deutsche Schlager, aber wenn das Schiff untergeht, ist all das irrelevant. Wenn wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen, wenn wir das Schiff nicht über Wasser halten können, brauchen wir über Einkommensverteilung, Rassismus und guten Geschmack nicht mehr nachzudenken",

antwortet der Wissenschaftler. Tatsächlich dürfte sinnvolle Prioritätensetzung etwas sein, das die getriebenen Leitmedien der frühen Digitalära kaum beherrschen. Während "wir uns gerade in eine Heißzeit beamen" (Schellnhuber), freut sich selbst die öffentlich-rechtliche "Tagesschau", die gerne als Flaggschiff des unabhängigen, seriösen Nachrichtenjournalismus erscheinen möchte, mit albern-sympathischen Symbolfotos über neue "Temperaturrekorde": "So warm war es im April noch nie" ...

Globales Vorbild: Donald Trump

Nicht überraschend auch keine gute Entwicklung nimmt die globale Medienfreiheit. Ende April veröffentlichten die Reporter ohne Grenzen ihre neue Rangliste der Pressefreiheit (PDF). Es habe "sich in 42 Prozent der bewerteten Länder die Lage im Vergleich zum Vorjahr verschlechtert", heißt es im Kommentar dazu. Das bedeutet offenkundig, dass bessere Platzierungen von knapp 40 Prozent der Länder (Deutschland steigt von Platz 16 auf 15) nicht zuletzt daher rühren, dass es anderswo klarer schlechter wurde.

Über einiges ließe sich etwas staunen. So ist die Türkei, über deren Medienfreiheits-Probleme hierzulande vor allem wegen Deniz Yücel viel berichtet wurde und in der weiter "mehr professionelle Journalisten ... als in jedem anderen Land der Welt" im Gefängnis sitzen, in der Rangliste nur um zwei Plätze auf 157 gefallen. Damit steht sie acht Plätze vor Usbekistan, wo "sich die Signale für eine Lockerung der Repression" mehren und "mehrere teils seit vielen Jahren inhaftierte Journalisten ... freigelassen" wurden. Auf der frischen Weltkarte der Pressefreiheit ist die Türkei als einer der Staaten mit "schwieriger Lage" weiterhin rot eingefärbt, während die Staaten mit der gefährdetsten, "sehr ernsten" Lage schwarz sind. Das geht bereits dem afrikanischen Burundi auf Platz 159 so und leuchtet nicht unbedingt ein. Visuell wäre es ein starkes Signal gewesen, die Türkei so schwarz einzufärben wie ihre drei südlichen Nachbarländer.

Doch sind das natürlich Darstellungs-Feinheiten, die höchstens in freien Gesellschaften eine Rolle spielen, in denen sich jeder solche Weltkarten an die Wand hängen könnte. Rankings mit Top-Ten-Platzierungen, "meistgelesenen" Artikeln oder (positiven wie negativen) Superlativen klicken gut und vermitteln sofort den Eindruck von Übersicht auf Basis klarer Daten. Textbausteine wie "... liegt der EU-Beitrittskandidat Türkei auf Platz 155 von 180 Ländern" bilden längst den üblichen Abschluss all der vielen Agenturmeldungen zu Justiz und Medienfreiheit in der Türkei. So etwas ist es, was die ROG und ihre Pressefreiheits-Rangliste relativ bekannt macht.

Auf Europa, zu dem die Türkei zu einem kleinen Teil nominell gehört, legt der Kommentar besonderes Augenmerk: "In keiner anderen Weltregion hat sich die Lage der Pressefreiheit im vergangenen Jahr so stark verschlechtert", schreiben die ROG, die etwa Serbien, Polen und Umgarn hervorheben (bzw. herabstuften), dabei jedoch zugleich einen globalen Trend ansprechen: "In immer mehr Regierungen demokratisch verfasster Staaten gelten medienfeindliche Rhetorik und Politik als hoffähig". Was natürlich in erster Linie dem frei gewählten Präsidenten des Staates gilt, der in weiten Teilen der kulturell globalisierten Welt immer noch mehr als Vorbild gilt: Donald Trump. Es ist leider ziemlich wahrscheinlich, dass die Medienfreiheit 2019 ihren Abwärtstrend beibehalten wird.

Spannend wie höchstens 1978

Wo einigen Staaten von den untersten Rängen dem großen deutschen Publikum begegnen werden: in knapp einem Monat beim nächsten großen Fußballturnier. Bei der Weltmeisterschaft spielen auch Ägypten (Platz 161), Iran (164) und Saudi-Arabien (169) in Russland, das selbst unverändert auf Platz 148 rangiert, doch  mit der vorübergehenden Ausladung des ARD-Reporters Hajo Seppelt (der seine Reportagen wie "Geheimsache Doping: Russlands Täuschungsmanöver" übrigens vorbildlich als Vimeo-Videos in seinem Internetauftritt hajoseppelt.de bündelt ...) bereits Punkte für eine tiefere Platzierung im nächsten Jahr sammelte. Ob die auf Bundesregierungs- und FIFA-Druck erfolgte bedingte Genehmigung für Seppelt, doch einreisen zu dürfen (und sich eventuell von einem russischen Untersuchungskomitee verhören lassen zu müssen) die Sache besser macht, ist eine knifflige, einstweilen nicht zu beantwortende Frage.

Zumindest machen die Umstände die Fußballturnier-Begleitberichterstattung, die ARD und ZDF wieder in gewaltigem Ausmaß bringen werden, spannender als sie jemals war. (Oder zumindest seit 1978, als die damalige Folter-Militärdiktatur Argentinien Gastgeber war ...). Was natürlich keine positive Spannung ist.

Wo bleibt das uneingeschränkt Positive? Bei den im Januar hier vorgestellten Riffreportern. Eine neue "Koralle" dieses Freie-Journalisten-Projekts versucht inzwischen, das existenzielle Thema Klimawandel, das "in den Mainstream-Medien seit 30 Jahren immer wieder runterrutscht" (wie der Mitgründer Christian Schwägerl damals zur Medienkolumne sagte) in einzelnen Artikeln zu fassen zu kriegen und den von Hans Joachim Schellnhuber kaum mehr erhofften "Perspektivwechsel" einzuleiten. Sie heißt "Klima Social".
 

 

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