Die Hauptstadt Berlin hat ein neues Medium. Es ist sogar ein Marktführer. Dort, wo die Schönhauser Allee und die Torstraße aufeinandertreffen und Berlin vielleicht am allerberlinigsten ist, mit allen Vor- und Nachteilen, sitzt nun die Redaktion, die die "mit rund 27 Millionen monatlichen Nutzern und 47 Millionen erreichten Personen ... reichweitenstärkste Internetseite Deutschlands" verantwortet.
Der Tagesspiegel war zu Gast in der t-online.de-Redaktion:
"Mit Amazons Sprachassistenz Alexa sind der Newsroom und sogar die Toilettenräume ausgestattet. Auf dem Schreibtisch von Arne Henkes meldet sich Alexa, wenn Donald Trump einen Tweet abgesetzt hat",
und Leser könnten sich unwillkürlich fragen, was Alexa auf dem Schreibtisch denn tut, wenn die Mitarbeiter in den Toilettenräumen, pardon ... etwas abgesetzt haben. Gewiss meldet sie es bloß nach Seattle und nicht ins Chef-Büro.
Arne Henkes ist der Chefredakteur von t-online.de, zumindest solange noch, bis Ex-SPON-Mann Florian Harms übernimmt, und spricht gerne von Vertrauen, das Nutzer noch wegen der T-Online-CD-Roms hätten, mit denen viele inzwischen ältere Menschen ihre ersten Interneterfahrungen gemacht haben. Leser müssen natürlich berücksichtigen (was der Tsp. auch prominent erwähnt): Das aktuelle t-online.de wird mitnichten von der Deutschen Telekom betrieben, sondern von Ströer Digital Publishing GmbH aus der Ströer-Allee 1 in Köln – also von einer der Firmen, die mit der Umwandlung von allem möglichen in Werbeflächen Geld verdienen. Wenn der Tagesspiegel schreibt:
"Das Ausprobieren kann die Redaktion sich leisten, da T-Online keine Printredaktion im Rücken hat, deren Auflagenrückgänge die Seite ausgleichen muss. Über drängende Fragen der Branche wie Paid Content muss sich das Ströer-Portal aufgrund seiner Werbefinanzierung ohnehin nicht sorgen",
klingen Erfahrungen einer traditionsreichen Tageszeitung an. Im Internet konkurrieren eben alle mit allen, um Aufmerksamkeit und um die Werbung, die Ströer im Überfluss hat.
Wo T-Online noch mal herkommt: aus der T-Online-Allee in Darmstadt. Im November hatten wir hier den Bericht des Darmstädter Echos über die Mitarbeiter-Trauerfeier anlässlich der Schließung des dortigen Betriebs mit "108 redaktionellen Arbeitsplätzen" verlinkt. In Berlin seien erst "53 der angestrebten 65 bis 70" Redaktions-Posten besetzt, weiß der Tsp. nun. Falls Sie überlegen, sich zu bewerben: Im wuv.de-Bericht von Ende Juni steht mehr über Harms' Pläne, und ein paar Fotos zeigen auch die Fitness-Optionen am Arbeitsplatz.
[+++] Um fair zu bleiben: So übel wie in der CD-Rom-Ära sieht t-online.de gar nicht mehr aus.
Der an diesem Dienstagmorgen meistgelesene Artikel "Geht Hayali mit ihrem Hass-Konter zu weit?" mag das Manko haben, dass gleich das krasseste Zitat als Hingucker-Oberüberschrift fungiert. Doch enthält er ansonsten wirklich alles, was man über diese Aufregung wissen können wollte: "Große Debatte: Geht Dunja Hayalis Hass-Konter zu weit?" in der Dachzeile, "so weit wie dieses Mal ging sie aber noch nie" am Artikel-Ende. Die originale Facebook-Antwort, die die Aufregung auslöste, ist technisch vorbildlich eingebunden, und aus einer weiteren Hayali-Antwort auf Kritik an ihrer ersten Reaktion wird zitiert. Besser kann man so ein Alle-berichten-drüber-also-müssen-wir-auch-Thema kaum spiegeln.
Sollten Sie dennoch mehr davon lesen wollen: Tagesspiegel (Joachim Huber: "Vielleicht rechtfertigt der Zweck doch die Mittel oder: anders gesagt: Der Zwerg reinigt die Kittel"), stern.de (mit viermal "(sic)" in einem Text!), Funkes Hamburger Abendblatt (nennt Hayalis Kommentar "vulgär"), Springers welt.de (mit der Standard-Überschrift aus dem welt.de-Überschriftenbaukasten), meedia.de 'türlich und und und ...
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... oder zumindest, wie der deutschen Onlinejournalismus funktioniert.
[+++] Rasch weiter zu Shahak Shapira. Shapira (online: shahak.de) ist noch krasser drauf als Dunja Hayali, aber ja auch kein ZDF-Moderator. Was er nun gemacht hat:
"...vor einem Hamburger Büro des Kurzbotschaftendiensts Twitter Hassbotschaften auf die Straße gesprüht. 'Wenn Twitter mich zwingt, diese Dinge zu sehen, dann müssen sie es auch zu sehen bekommen', sagte Shapira in einem Internetvideo. Mit seiner Aktion unter dem Twitter-Stichwort #heytwitter protestiert Shapira gegen die Löschpolitik des Konzerns" (Standard; siehe auch faz.net).
Hier bei Youtube gäb's das gut fünfminütige Video separat; die #heytwitter-Diskussion auf Twitter.
Interessant ist, dass Shapira Facebook, das ja das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz anstieß, im Gegensatz zu Twitter
"lobte ... Das in der Vergangenheit für seine Löschpolitik oft kritisierte Netzwerk habe von 150 gemeldeten Hasskommentaren etwa 80 Prozent gelöscht – und das binnen drei Tagen." (nochmals Standard).
"Als wir die Tweets vor die deutsche Twitter-Zentrale gesprüht haben, hat ein Mann kurze Zeit später den Bürgersteig vor dem Gebäude gereinigt, das ist alles. Ich weiß allerdings nicht, ob derjenige von Twitter geschickt wurde, oder jemand anderes ihm den Auftrag gegeben hat",
sagt Shapira im vice.com-Interview. Das dürfte ihn natürlich kaum überrascht haben. Schließlich trug und trägt gerade das transitorische Yolocaust-Projekt zu seinem Ruhm bei.
Allerdings: Ob sich in Hamburg ("in der Hamburger Museumstraße 39", wuv.de) eine "Twitter-Zentrale" befindet, ist eine andere Frage. Die Europazentrale sitzt aus den für kalifornische Konzerne gängigen Gründen der Steuer- und Datenschutz-Niedrigkeit in Irland (heise.de, faz.net 2015). Twitter Deutschland bloggt nicht mehr, ja twittert sogar kaum noch. Dass Twitter, das über die Anzahl seiner deutschen Mitarbeiter nie Auskunft gab, seinen Deutschland-Sitz in Hamburg habe, wurde vor allem bekannt, als sehr nachträglich die Schließung des Berliner Büros publik wurde (vgl businessinsider.de auf englisch, t3n.de aus dem März).
Firmendatenbanken nennen mehr als 20 weitere Firmen mit Sitz in der Hamburger Museumstraße. Mehr als allenfalls eine Handvoll – bekanntlich wenig erfolgreiche – Twitter-Anzeigenverkäufer dürfte in Altona kaum noch sitzen. Was die Sache natürlich umso spannender macht, sobald im Oktober das NetzDG gelten wird.
[+++] Antisemitismus nicht in 140 Zeichen, sondern in 15 Minuten?
Die Debatte, die es dazu "wie jeden Monat" (Stefan Frank, mena-watch.com) um Dokumentarisches auf Arte gibt, geht weiter. Es handelt sich noch um die aus dem Juli (Altpapier vom Mittwoch, -korb vom Donnerstag), die um den 15-Minüter "Gaza: Ist das ein Leben?" (der sich noch "bis zum 29. Juni 2020" auf arte.tv ansehen lässt) kreist.
Hier erwähnt waren der Offene Brief des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus und Artes Stellungnahme. Nun liegt eine Stellungnahmen-Antwort des Jüdischen Forums vor. Noch eine Schippe Arte-Kritik drauf legt der mena-watch.com-Beitrag:
"Arte ist ein Weltanschauungssender, von dem man keine Berichterstattung erwartet. Doch dass eine Aktivistin aus dem militanten Anti-Israel-Milieu für einen Film bezahlt wird, der von Anfang an als Propaganda konzipiert war, zeigt: Bei Arte verschwimmen die Grenzen zwischen Kommentar und Intifada. Auch bei den öffentlich-rechtlichen deutschen Nachrichtensendungen ist es zwar gang und gäbe, Anti-Israel-Aktivisten als Experten zu befragen ... Doch niemand ging dort bislang so weit, die Produktion einer Sendung an jemanden von Electronic Intifada zu delegieren. Arte ist in seiner ideologischen Ausrichtung deutlich extremistischer ...",
schreibt Frank.
Das bezieht sich auf den französischen, nicht öffentlich-rechtlich, sondern staatsfernsehmäßig organisierten Anteil des deutsch-französischen Senders, der in Deutschland wenig wahrgenommen und erst recht nicht für ein Problem gehalten wird. In der Arte-Mediathek ist als Herkunftsland von "Gaza: Ist das ein Leben?" Polen angegeben, wo die Produktionsfirma "Prime Consulting" offenbar ansässig ist. Und als Argument gegen die Autorin Anne Paq führt Stefan Frank vor allem das englischsprachige, in Chicago ansässige Portal electronicintifada.net an, und verlinkt Tweets einer ebenfalls dafür tätigen Autorin, die z.B. "Wonderful wonderful news that three settlers have been kidnapped. Celebrations celebrations ..." lauten. Vermutlich getwittert wurden sie in London. Daran, sie zu löschen, hat bei Twitter in Dublin oder San Francisco niemand gedacht, schon weil es dort solche Gesetze, wie sie in Deutschland mit dem NetzDG unter großem Hallo und viel Kritik beschlossen worden sind, überhaupt nicht gibt. (Immerhin eignen sie sich dazu, deutlich von der Einstellung der Aktivisten zu zeugen.)
Es bleibt verdammt kompliziert.
+++ Vergleichsweise sehr harmlose, aber auch spannende Front: Landesmedienanstalten versus Youtuber (siehe z.B. dieses Altpapier). In einer neuen Runde wird's konkret: Der Youtuber "Flying Uwe" Schüder aus Halstenbek hält sich zwar inzwischen an die für "fernsehähnliche Telemedien" gültigen Werbevorschriften des Rundfunkstaatsvertrags und "kennzeichnet seit Ende März ... generell jedes seiner Videos vor Beginn und am Ende mit dem Hinweis 'Unterstützt durch Produktplatzierung"'. Doch er will nicht 10.500 Euro Bußgeld dafür, dass er das vorher nicht gemacht hat, an die Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein (MA-HSH) zahlen. Es berichtet medienkorrespondenz.de. +++
+++ Übrigens: das neue Jahrbuch Fernsehen ist da. Es enthält u.a. Artikel von Altpapier-Autorin Juliane Wiedermeier mir (über "Die RBB-Rockerin" Patricia Schlesinger) und von mir (über Facebook, Youtube und die Öffentlich-Rechtlichen). Und einen von Senta Krasser über "YouTuber als Politikvermittler" +++
+++ Es wurde vereinzelt erwähnt: Zu den Zeugen der Anklage im Prozess gegen die Cumhuriyet-Journalisten gehören ebenfalls Journalisten. Über einen davon, Hüseyin Gülerce, der "vor wenigen Jahren ... noch Chefredakteur der Gülen-nahen Zeitung 'Zaman'" war, berichtet der Tagesspiegel. +++
+++ Wer im "wunderbaren Land und Reiseziel" Türkei unter gewohnt großem Hallo urlaubt: Kai Diekmann. +++ Andere medienfreiheitlich prekäre Staaten hat er im Blick: "'Seit sieben Jahren führt Natalja Sindejewa ihren Sender Doshd TV mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit durch die unwägbaren Tiefen russischer Politik und trotzt selbst größten Widerständen', begründet M100-Beirat Kai Diekmann die Entscheidung des M100-Beirats. 'Doshd TV ist der einzige unabhängige Sender in Russland, der über soziale, wirtschaftliche und politische Ereignisse berichtet, die von staatlichen Medien nicht aufgegriffen werden – und hat damit großen Erfolg!" Sindejewa wird im September in Potsdam den M100 Media Award bekommen (m100potsdam.org). Tanit Koch wird laudatieren (Potsdamer Neueste Nachrichten). +++
+++ Eine Reihe über "Radio im Medienwandel", vor allem dem zum Nichtlinearen, hat epd medien gestartet. Der erste Beitrag, den Wolfram Wessels vom SWR schrieb, steht nun frei online. +++
+++ Die Israel-vs.-Al-Dschasira-Frage ist nun Thema in der TAZ. +++
+++ Aus der letzten Woche, aber interessant: Die Rheinische Post hofft noch auf die "Ehrenkommission", in der u.a. Rita Süssmuth sitze, um Stephan Holthoff-Pförtner als nordrhein-westfälischen Minister u.a. für Medien zu verhindern. Holthoff-Pförtner ist bekanntlich (siehe v.a. dieses Altpapier) ist bekanntlich Mit-Eigentümer der Funke-Mediengruppe, und die RP gehört zu den nicht sehr vielen Zeitungen in NRW, die nicht zu den Funkes gehören. +++
+++ Constanze Kurz I (FAZ): "Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Trump via Twitter unaufhörlich unausgegorene Gedanken tickert, die mit niemandem abgesprochen sind ... Und zugleich droht Sessions mit der harten Hand des Staates, wenn faktische Informationen aus dem Weißen Haus an die Presse durchgestochen werden." Und "nichts an den per Twitter gestreuten E-Mails deutet übrigens auf irgendeine Form von Geheimhaltung mittels Verschlüsselung der Nachrichteninhalte hin. Das Wahlkampfteam und die Familienmitglieder des Multimillionärs verschickten ihre Mails offenbar frei durch die Gegend, so dass auch jeder fähige Geheimdienst sowie gutorganisierte Kriminelle im Bilde sein dürften." +++ Constanze Kurz II (netzpolitik.org): Gaanz anders sieht es für die Öffentlichkeit weiterhin aus, wenn Nachlässe politischer deutscher Beamter an parteinahe Stiftungen privatisiert werden. +++
+++ Die den Grünen nahestehende Böll-Stiftung hat sich zur agentin.org-Sache (Altpapier gestern) geäußert, und welt.de berichtet darüber. +++
+++ Auf der FAZ-Medienseite stehen allerhand Fernsehtipps. Und Adrian Lobe geht von einem "Emoji-Nachrichten"-Experiment der BBC aus, um dann grundsätzlich zu werden: "Doch zeigt sich in der zunehmenden Verwendung dieser infantilen Symbole in der Alltagskommunikation ein Trend zur Verflachung der Sprache. Politiker erklären sich auf 140 Zeichen, Jugendliche kommentieren Artikel auf Facebook mit Herzchen oder Smileys. Das Vokabular bestimmen dabei Tech-Konzerne, die uns ein standardisiertes Set an die Hand geben. Über die Aufnahme von Emojis entscheidet autoritativ das Unicode-Konsortium, ein gemeinnütziger Verein nach kalifornischem Recht, dem alle Tech-Konzerne wie Google, Apple, Yahoo und Facebook angehören ... Konzernen wie Facebook und Google, die das Nachrichtengeschäft bereits absorbiert und mit ihren Diensten ein neues mediales Ökosystem geschaffen haben, dürfte das keine Probleme bereiten, der politischen Kommunikation schon." +++
+++ Michael Hanfeld (FAZ) hält nichts von Frauke Petrys Sommerloch-Vorschlag, was den Rundfunkbeitrag angeht, rät aber auch DJV-Chef Frank Überall zu einer "Sommerpause ohne tägliche Wortmeldung zu irgendwas". +++
+++ Übersichtlich, u.a. dank der CDU, die "zum Thema nichts zu sagen" hat, fällt der netzpolitik.org-Wahlprogrammvergleich zu "Transparenz und offene Daten" aus. +++
+++ "Der Erfolg irrt niemals", schreibt Franz Kotteder auf der SZ-Medienseite, um dann den Erfolg des "volksmusikfreien", dafür an der Thommy-Gottschalk-Musikfarbe ("Joe Cocker, Elvis, Status Quo, die Beach Boys") reichen Senders Bayern 1 zu eruieren. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.