Absurd lautet das Attribut des Tages. Es gilt in erster Linie dem Gerichtsprozess gegen 17 Mitarbeiter der Cumhuriyet, der gestern in Istanbul begann. Diese Zeitung verdient erst mal einen Solidaritäts-Klick: Hier geht's zur englischsprachigen Ausgabe. Sie sieht, ebenso wie die türkischsprachige, trotz der dramatischen Probleme, die das türkische Regime ihr bereitet, wie eine weiter voll funkstionsfähige Zeitung aus.
Prozess-Berichte gibt's etwa im Tagesspiegel, in der TAZ und in der Süddeutschen, die auf ihrer Titelseite gemeinsam mit den Reportern ohne Grenzen den Prozess "hanebüchen und an Absurdität nicht zu überbieten" nennt. Weiterhin breit in der deutschen Medienlandschaft vertreten ist der ehemalige Cumhuriyet-Chef Can Dündar (Deutschlandfunk, correctiv.org, gestern bereits auf SZ-Medienseite). Was kein Vorwurf sein soll, Dündar hat eben erkannt, wie wichtig Personalisierung ist.
Ein Teil der Absurdität liegt bereits in der Anklage, die für die Cumhuriyet-Redaktion ausgewählt wurde: Sie wird bekanntlich u.a. der Unterstützung der (angeblichen) Putschisten von der Gülen-Bewegung bezichtigt.
"Dabei hat Cumhuriyet schon kritisch über Gülen berichtet, als die Regierenden noch einträchtig mit ihm zusammenarbeiteten und mit seiner Hilfe ihre islamisch-konservativen Seilschaften im Staatsapparat ausbauten. Die säkulare Zeitung und der fromme Verschwörer - wie das zusammenpassen soll, ist rätselhaft",
schreibt Luisa Seeling in der SZ.
Absurd geht's im Gerichtssaal aber ebenfalls zu, wie etwa Rainer Hermann in der FAZ unter der Überschrift "Verschwörung per Smartphone" berichtet:
"Es heißt, er [der angeklagte Redakteur Kadri Gürsel] habe Kurznachrichten von Leuten zugeschickt bekommen, auf deren Mobiltelefonen die Smartphone-App 'Bylock' installiert gewesen sei. Dass er auf die nicht reagiert habe, spielt keine Rolle. Auch bei anderen Angeklagten, etwa Aydin Engin, kommt zur Sprache, dass in den Mobilfunktelefonen von Leuten, mit denen er einmal telefoniert hat, diese App gefunden worden sei. Sie gilt inzwischen als der höchste Beweis dafür, dass sich die Gülen-Bewegung gegen den Staat verschworen habe."
Allerdings werde durchaus darauf geachtet, den Absurditätsanschein einzudämmen, argumentiert Ali Celikkan in der TAZ:
"Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Berichterstattung habe sich zugunsten der Gülen-Bewegung und der PKK verändert. Regierungsnahe Medien stützen diese Anschuldigungen durch ihre Berichterstattung. Noch trauriger ist, dass einige (Ex-) Mitarbeitende als Zeugen der Anklage ausgesagt haben. Offensichtlich hatten sie Interesse daran, die frei gewordenen Stellen zu besetzen. Die Regierung hatte sich interne Machtkämpfe zunutze gemacht, um unsere Zeitung von innen zu zerlegen."
"Canim Babam – mein lieber Vater!", ein Brief Muratan Sabuncus an seinen Vater, den aktuellen Cumhuriyet-Chefredakteur Murat Sabuncu, auf der bunten "Deutschland und die Welt"-Seite der FAZ (45 Cent bei Blendle) zählt zu den weiteren aktuellen Artikeln zum Thema.
"Ein Urteil wird bereits für diesen Freitag erwartet", heißt's im DLF-Bericht. Lange dauern in der Türkei die Gefängnisaufenthalte nach den Prozessen und auch davor, aber nicht diese selbst.Auch daher übrigens: #Free Deniz, sowie #FreeMesale, deren Brief über ihre Verhaftung die elektronische Presse des Bayerischen Rundfunks zu einem einminütigen Video animiert hat.
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[Nachtrag um 10.27 Uhr: Zur internationalen Reporter ohne Grenzen-Petition "Freedom for Cumhuriyet, freedom for all Turkish journalists!" geht es hier.]
[+++] "Das ist eine (kleine) Überraschung", hieß es vor vier Wochen hier, als das neue, moderate Deutschland-Engagement der Neuen Zürcher Zeitung bekannt wurde. Heute nun startet "das neue Deutschland-Abo" der Neuen Zürcher", das den Eigennamen "NZZ Perspektive" trägt, zum Paid Content-Kampfpreis von "1 Monat für nur 1 Euro". Anschließend soll der Monatspreis sich verzehnfachen. Die vielleicht präziseste Umschreibung, um was genau es sich dabei handelt, dürfte sein: ein
"kuratiertes E-Paper für Deutschland".
So formuliert es der Standard. Und damit zur nächsten "kleinen Überraschung" (kress.de), die ebendiesem Standard gelungen ist. Auch die österreichische Zeitung engagiert sich nun auf dem deutschen Markt und hat unbemerkt ein deutsches Portal zur Beta-Reife gebracht. Derstandard.de (statt derstandard.at) heißt es und soll die un-"vergleichbare Mischung aus Qualitätsjournalismus und Community-Plattform", auf die das österreichische Original stolz ist, nach Deutschland transferieren. Das sagt die sonst sympathisch zurückhaltende Digital-Verlagsleiterin Gerlinde Hinterleitner ("Sollten wir so erfolgreich sein, wie wir es uns wünschen, steht auch eine eigene Redaktion in Deutschland am Plan") im Kress-Interview mit Bülend Ürük.
Jetzt greifen also gleich zwei internationale deutschsprachige Qualitätszeitungen auf unterschiedliche Weise auf den deutschen Nachrichtenportale-Markt aus, der bekanntlich enorm dicht besetzt und schon daher ökonomisch prekär ist. Meedia.de alliteriert bereits von "Alpen-Attacke", wobei das Übrige ("Beide Angebote stehen wohl unter einem gewissen zeitlichen Druck. Beiden [sic] müssen sich bis zur Bundestagswahl durchzusetzen. Danach dürfte das Interesse der breiteren deutschen Öffentlichkeit an Politik-Berichterstattung wieder abnehmen ...") relativer Unfug sein dürfte. Dass ausgerechnet ausgeruhte alpenländische Medien sich in Deutschland innerhalb von nur zwei Monaten, von denen mindestens die Hälfte Sommerferien sind, durchsetzen wollen, ist ausgeschlossen.
Und inhaltlich kann der deutsche Onlinemarkt frische Akzente jenseits des sehr breiten Mainstreams gut gebrauchen. Die NZZ hat, anders als der Standard, bereits eine kleine deutsche Redaktion. Bzw. ist zumindest der vor vier Wochen erwähnte, zuvor bei der Süddeutschen angestellte Marc Felix Serrao für sie bereits aktiv. Z.B. ist sein Artikel "Bist du nicht weltoffen, wird dein Lokal geschlossen" erschienen. Solche Geschichten aus München-Sendling gibt's beim Platzhirschen, der einst an der Sendlinger Straße saß, eher nicht zu lesen ...
"In der 'Welt' vom vergangenen Samstag steht ein Text, der von Henryk M. Broder stammt und trotzdem kein kompletter Unfug ist",
schreibt Mats Schönauer auf uebermedien.de, ohne seine Leser in Versuchung zu führen, Broders (allerdings kostenpflichtiges) Original zu lesen. Jedenfalls wundern sich Schönauer wie Broder darüber, wiein der Amazon-Fassung der Spiegel-Bestsellerliste plötzlich ein Platz frei geworden war. Da hatte zuvor das Buch "Finis Germania" gestanden, das unter leicht skandaloiden Umständen (Altpapier) auf die "Bestenliste" und dann, nachdem oder weil es davon entfernt wurde, auch auf die Bestsellerliste geraten war, auch von dieser wieder entfernt worden, zunächst heimlich.
Schönauer:
"Hätte der 'Spiegel' das Buch wenigstens transparent entfernt, wäre ihm Kritik aus der rechten Ecke gewiss gewesen, doch zumindest hätte er sich in vielen anderen Ecken Glaubwürdigkeit bewahrt. So aber untergräbt er diese nicht nur selbst, sondern gießt auch weiteres Öl ins 'Lügenpresse'-Feuer — und verschafft dem Buch einmal mehr Aufmerksamkeit."
Falls Sie nun doch Broders unter der Spitzmarke "Political Correctness" erschienenes Original lesen wollen, müssten Sie bezahlen. Es ist der aktuell drittjüngste Broder-Welt-Artikel. Der jüngste, "Grüner Online-Pranger/ Der Geheimdienst der Guten" (auch €) , gilt dem, was heute im Tagesspiegel Bernd Matthies unter der Überschrift "Eine Art Verfassungsschutzbericht der Gender-Szene" "eine denunziatorische Liste von Organisationen und Namen" nennt:
"Und so stehen nun der äußerst rechte Verschwörungs-Pegidist Jürgen Elsässer, die konservative Publizistin Birgit Kelle ('familistisch') und der höchst liberale Tagesspiegel-Kollege Harald Martenstein auf einer schwarzen Liste. Komischerweise fehlt der fiese FAZ-Blogger Don Alphonso, und auch Henryk M. Broder wurde ausgespart – er schäumt schon und wird sich das Recht, auf 'Agent*In' erscheinen zu dürfen, vermutlich gerichtlich erkämpfen."
Jede*r Leser*in, der einen Eindruck vom politischen, ähm, Diskurs in den sogenannten sozialen Medien kurz vorm Wahlkampf gewinnen möchte, sollte sich agentin.org und die FAQ des von der grünen Heinrich-Böll-Stifung betriebenen "Anti-Feminismus-kritische Online-Lexikons" namens "Agent*In" "(Abkürzung von Anti-Gender-Networks Information)" mal angucken:
"Stellt die Agent*In nicht Personen an den Pranger und ist eine Art 'Schwarze Liste'?
Nein. Die Personen und Organisationen stellen sich selbst in der (medialen) Öffentlichkeit und/oder im Internet mit antifeministischen Positionen dar. Die Autor*Innen geben dies in den Artikeln sachgenau wieder. Alle über die Personen und Organisationen zusammengetragenen Informationen sind aus öffentlich zugänglichen Quellen zusammengetragen. Die Agent*In verknüpft diese und zeigt Verbindungen und Netzwerke zwischen den Personen und Organisationen auf, die nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich sind. Jede*r Leser*in kann sich so selbst ein Bild machen."
+++ Voll am Pubertieren ist die deutsche Film- und Fernsehindustrie. Mit geradezu Nikolaus-von-Festenberg-ischer Verve analysiert Joachim Huber im Tagesspiegel "Das Pubertier – Der Film" und "Das Pubertier – Die Serie", beide nach dem Bestseller-Buch des Erfolgskolumnisten Jan Weiler, ansonsten nicht identisch (und daher auch von jeweils anderen Platzhirschen produziert: der Oliver-Berben-Constantin bzw. der Ufa): Beim Kinofilm "führt Leander Haußmann Regie, und er tut es mit aller Konsequenz, Lautstärke, Drastik. Ein reiner Furzkissen-Spaß. Wer dieses Lichtspiel mit Skepsis angeht, der wird ins Schleudertrauma geraten, wenigstens verdammt viel schlechte Laune bekommen. Voll pubertär das Ganze, Vati ist der größte Vollhorst unter allen Vollhorsten, alle und alles rasen: Eltern, Tochter, Hormone, Sprüche, Scherze. Wer sich darüber freuen will, dass es bei den Wengers noch viel schlimmer zugeht als im eigenen Zuhause, der kann sich sehr freuen. Die anderen freuen sich darüber, dass das Machwerk nur 91 Minuten dauert." Die Fernsehserie dauert insgesamt länger, aber in kürzeren Folgen. +++
+++ Zur Otto-Brenner-Stiftungs-Studie "Die 'Flüchtlingskrise' in den Medien", um die es gestern oben im Altpapier ging, hat die OBS Bonusmaterial veröffentlicht: 41 Seiten "Methodische Hinweise" (PDF). +++ Eine Einschätzung zur Studie gibt bereits meedia.des Stefan Winterbauer – mit Seitenhieben gegen den Mitbewerber turi2.de, diesen "im über- und verdrehen nicht eben ungeübten Medien-Aggregationsdienst", aber auch gegen Studien-Verfasser Michael Haller, dessen "Text, der die Studien-Ergebnisse begleitet und einordnet, des öfteren Interpretationen vornimmt und Schlüsse zieht, die manchmal mit den faktischen Ergebnissen der Studie nichts zu tun haben. So wird beispielsweise an einer zentralen Stelle, auf Seite 123, der Video-Kommentar eines SZ-Redakteurs ausführlich zitiert, der gar nicht Bestandteil der Untersuchung war, Haller aber als 'sinnfällig' erschien". +++
+++ Auf der SZ-Medienseite geht's groß um stimmtdas.org, das neulich hier genannte neue Faktencheck-Portal. "Die Idee ... entstand, bevor Correctiv ins Fact-Checking einstieg. Damals hatten sich die Macher 'gewundert, dass es in nahezu allen demokratischen Ländern Faktencheck-Seiten gibt, nur in Deutschland nicht'", weiß Kathrin Hollmer. +++ Und um den "Schweizer Außenposten" der überwiegend deutschen Reihe "Tatort", für den der ebenfalls überwiegend in Deutschland arbeitende Regisseur Dani Levy "eine Episode ohne jeden Schnitt" drehen möchte: "Die Idee jedenfalls soll natürlich an 'Victoria' erinnern, einen der größten deutschen Kinohits der vergangenen Jahre, von Sebastian Schipper in Berlin gedreht, sie erinnert aber auch an das letzte künstlerische Experiment der 'Tatort'-Reihe", das nur wenige gelungen fanden. +++
+++ Was geht auf der FAZ-Medienseite? Heute nichts. Sie fehlt, weil das ganze Feuilleton aus einem bunten, schönen, mit vielen Grafiken sowie u.a. einer Seite mit "Parsifal"- und "Tristan und Isolde"-Comics illustrierten "Bayreuther Festspiele"-Spezial besteht. +++
+++ "Namhafte Personen aus der mittleren Führungsebene – sowohl aus der Redaktion wie auch aus dem Verlag" der Mitteldeutschen Zeitung könnten einen anonymen Brief an die Dumont-Mediengruppe, zu der diese MZ gehört, geschrieben haben (noch mal meedia.de). +++
+++ Und Hygge, die jüngste Gruner+Jahr-Zeitschrift (siehe Altpapier), ist genau genommen ein "Produkt der Deutschen Medien-Manufaktur, zu der sich das Hamburger Verlagshaus Gruner + Jahr mit dem Landwirtschaftsverlag Münster zusammengetan hat". Doch stecke "wenig Münster und viel Hamburg" darin. "Denn wenn Hamburger eine Zeitschrift machen, die so richtig 'hyggelig' werden soll, ist das, wie wenn Hamburger Tango tanzen ...", analysiert Diemut Roether in epd medien. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.