Randale und Leitkultur

Randale und Leitkultur
In Berlin blieb alles ruhig. Dafür belebte der Bundesinnenminister die öffentliche Debatte mit einer Einladung: Er will über Leitkultur diskutieren. In Österreich gibt es dagegen schon länger Überlegungen über ein neues Medienangebot. Nur was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Verleger und einem Limonadeproduzenten?

Die wichtigste Meldung dieses Tages lautet, dass es keine gibt, wenigstens nicht aus Berlin. In den vergangenen Jahrzehnten wurde der 2. Mai bisweilen von der Berichterstattung über die Randale als Methadon-Programm für verhinderte Revolutionäre dominiert. Diese Erinnerung prägt auch heute noch die Erwartung, obwohl solche Berliner Krawallnächte zum „Tag der Arbeit“ schon länger nicht mehr vorgekommen sind. Es blieb also auch in Berlin „friedlich, festlich und kämpferisch“, so der Tagesspiegel. Randale ist eben (wie andere Formen der Gewalt) unter modernen Bedingungen längst zu einer Kommunikationsform geworden. Schließlich erwartet niemand mehr den Sieg in einem Bürgerkrieg, um dem Feind nach dessen militärischen Niederlage den eigenen politischen Willen aufzuzwingen. Die Berliner Randale funktioniert somit nicht als leeres Ritual ohne Botschaft. Das haben sogar die Berliner Autonomen begriffen.

+++ Dafür bestimmte an diesem Wochenende der Wahlkampf als institutionalisierte Form der gewaltlosen Konfliktbearbeitung die Berichterstattung in den Medien. Thomas de Maizière hat in der Bild am Sonntag zu einer „Diskussion über eine Leitkultur für Deutschland“ eingeladen. Eine interessante Formulierung des Bundesinnenministers. Ansonsten käme im Wahlkampf sicherlich niemand auf die Idee, etwa zu einer Diskussion über die Arbeitsmarktordnung oder die deutsche Außenpolitik einzuladen. Im Wahlkampf geht es nämlich um programmatische Forderungen konkurrierender Parteien. Sie sind ein Aufruf an die Wähler, welche Forderungen er unterstützen will. De Maizières Einladung wäre somit als ein unverbindliches Diskussionsangebot zu verstehen. Nur wüssten die Unionsparteien dann selber noch nicht, was deutsche Leitkultur ist.

Diese Vorsicht hat mit der Geschichte dieses Begriffs und der zu erwartenden Reaktion in den Medien zu tun. Die ist von weitgehender Ablehnung geprägt, wie etwa die heutige Presseschau des DLF dokumentiert. Das ist das Ergebnis eines Kulturbegriffs, der bis zur Reichsgründung im Jahr 1871 das deutsche Nationalbewusstsein prägte. Allein deshalb kommt der Bundesinnenminister auf die Idee, warum sich Zuwanderer an die deutsche Kultur orientieren sollen – und nicht an die Zumutungen einer modernen Gesellschaft. Eine dieser Zumutungen ist der Wahlkampf als Streit um programmatische Forderungen, etwa über die Zukunft von Einwanderungsgesellschaften. Eine Leitkulturdebatte gleicht dagegen dem Versuch, den berühmten Pudding an die Wand zu nageln. Wir sind nicht Burka, so de Maizière. Aber wer ist schon Burka? Wohl nur eine kleine Minderheit, wenigstens in Deutschland. Politisch relevant ist dagegen unter anderem die Frage, ob deswegen das Tragen einer Burka verboten werden soll. So ist diese Einladung ebenfalls als eine Kommunikation ohne klare Botschaft zu bezeichnen. Vielleicht hat aber auch der Bundesinnenminister ein Problem mit den Zumutungen moderner Gesellschaften.

+++ Um solche klaren Botschaften geht es scheinbar dem Limonadefabrikanten Dietrich Mateschitz. Er plant mit „Quo vadis veritas?“ eine „unabhängige, multimediale Rechercheplattform.“ Der umtriebige Milliardär hat dabei schon mit RB Leipzig in der Fußball-Bundesliga seine Fähigkeit bewiesen, neue Geschäftsfelder zu erschließen. Er ist also nicht zu unterschätzen, selbst wenn seine bisherigen Versuche (etwa mit Servus-TV) als Medienunternehmer nicht gerade als Erfolgsgeschichte anzusehen sind. Aber was plant Mateschitz? Im zitierten FAS Artikel kommt die Unsicherheit zum Ausdruck, die Mateschitz mit seiner Ankündigung ausgelöst hat.

„Als Medienunternehmer ist Mateschitz bisher vor allem durch die eine oder andere rasche Entscheidung in Zusammenhang mit seinem Sender „Servus TV“ aufgefallen, ohne dass man aber das Gefühl haben musste, dass er persönlich nach einen ideologischen Sprachrohr für seine Überzeugungen sucht. Bei Quo Vadis Veritas tauchen nun schon eher Befürchtungen auf, dass in einer zunehmend oligarchisch verfassten Medienlandschaft in Mittel- und Osteuropa nun ein weiterer Superreicher sich einfach ein eigenes Medium für die Unterscheidung von Wahrheit und Fake News schaffen könnte.“

Nun hat heute jeder die Möglichkeit, ein „ideologisches Sprachrohr für seine Überzeugungen“ zu schaffen. Die Investitionskosten halten sich in der digitalisierten Medienwirtschaft bekanntlich in überschaubare Grenzen. Die Reichweite und die Erfolgsaussichten eines solchen Angebots hängen dabei nicht zwangsläufig von den finanziellen Möglichkeiten des Anbieters ab, ansonsten wären solche Projekte etablierter Verlage nicht schon reihenweise gescheitert. Und wenn ein Mateschitz lediglich seine politischen Überzeugungen transportieren wollte, müsste er mit einem schlichten Sachverhalt fertig werden: Für alle denkbaren Überzeugungen gibt es schon längst entsprechende Angebote. Wo wäre also die Marktlücke von „Quo Vadis Veritas“ zu finden? Das wissen offensichtlich noch nicht einmal die Initiatoren, wie in der FAS zu lesen ist.

„Für detaillierte Informationen über Struktur, Themenspektrum und Aussehen dieser Plattform ist es noch zu früh“, ließ Michael Fleischhacker über Quo Vadis Veritas verlauten. Seit einigen Wochen arbeitet er mit einem kleinen Team von Leuten, die zum Teil von „Vice“ kommen, an ersten Schritten zu einer „Wiederherstellung einer soliden Faktenbasis als Grundlage für eine qualifizierte, ruhig auch kontroversielle politische und gesellschaftliche Debatte beizutragen.“ Kontrovers ist dabei vor allem der Befund, dass die Faktenbasis verloren gegangen war. Vielleicht sind aber doch vor allem die Interpretationen gemeint.“

Es geht aber gerade nicht um das Fehlen einer „soliden Faktenbasis“ für eine „kontroversielle politische und gesellschaftliche Debatte.“ In Wirklichkeit vermisst niemand mehr eine Agentur zur Verbreitung ewiger Wahrheiten, wie es früher noch nicht einmal die Tageschau gewesen war. Das Problem der gegenwärtigen Medienlandschaft ist nicht seine Ideenlosigkeit, sondern das Fehlen funktionierender Geschäftsmodelle für journalistische Angebote. Davon hängt aber seine Unabhängigkeit ab, wenn Informationsangebote nicht lediglich dem Transport ideologischer Botschaften dienen sollen.

Milliardäre wie Mateschiz haben zweifellos die finanziellen Möglichkeiten, um den Verlust journalistischer Geschäftsmodelle zu kompensieren: Sie können sich schlicht etablierte Medienmarken kaufen. Allerdings nicht als Investment, sondern um die Meinungsbildung in ihrem Interesse zu beeinflussen. Das ist ein fundamentaler Unterschied zum Interesse von Verlegern. Diese hatten zwar auch politische Interessen. Dafür standen in früheren Zeiten etwa Axel Springer und Rudolf Augstein. Nur hatten sie ein gemeinsames Interesse an journalistischen Produkten. Davon hing ihr wirtschaftlicher Erfolg ab. Sie konnten mit Journalismus zu reichen Männern werden. Zur gleichen Zeit erlebte die parteipolitisch geprägte Presse einen beispiellosen Niedergang. Springer und Augstein mussten eben nicht reich sein, um sich Journalismus leisten zu können. Das ist der Unterschied zu heute – und die eigentliche Gefahr für das Mediensystem.

+++ Warum es in der Medienlandschaft nicht an Ideen fehlt? Dafür nur einige aktuelle Beispiele. In der Schweiz startete das Crowdfunding für das von den „prominenten Journalisten Constantin Seibt und Christof Moser lancierte Medienprojekt «Republik». Angestrebt waren 3000 Spenderinnen und Spender, die während 35 Tagen mindestens CHF 750’000 einzahlen sollten.“ Bloomberg plant dafür einen neuen News-Kanal auf Twitter und Snapchat startete zum Maifeiertag sein „Our story“- Projekt in Deutschland. Zugleich bekam man allerdings an diesem langen Wochenende die Möglichkeit aus einem gescheiterten Projekt der NZZ in Österreich zu lernen.


Altpapierkorb

+++ Auch Journalisten haben ein Interesse an guten Arbeitsbedingungen und an ein Einkommen, wovon sie leben können. Den „Tag der Arbeit“ nahm der Deutschlandfunk zum Anlass, um diese Arbeitsbedingungen in @mediasres zu thematisieren. Dazu auch Daniel Bouhs in seinem Blog. Der DLF hat gestern zudem seine angekündigte Namensänderung vollzogen: „Deutschlandfunk“ ist jetzt die Dachmarke der drei angebotenen Radioformate.

+++ Um verbale Randale geht es auch in dieser Meldung. NDR-Satiriker Christian Ehring hat die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel eine „Nazi-Schlampe“ genannt. Die Partei überlegt jetzt juristische Schritte. Ehring reagierte damit auf deren Äußerung, dass "die politische Korrektheit auf den Müllhaufen der Geschichte" gehörte. Die Ambivalenz einer solchen Aussage hat er sicherlich deutlich gemacht. Allerdings muss man sich schon die Frage stellen, ob eine solche Äußerung jenseits dessen überhaupt einen satirischen Sinn macht. Campino, Sänger einer bekannten Musikkapelle, hat der FAS ein interessantes Interview gegeben. Dort äußert er sich auch zu Jan Böhmermann und dessen Erdogan-Schmähgedicht. Das rechtfertigte „keinen juristischen Prozess“, so Campino, aber es steht für mich auf dem Niveau eines Furzkissens – wer’s mag, okay, ist aber nicht mein Humor.“ Wahrscheinlich wird die AfD jetzt das Furzkissen von extra 3 als gute Gelegenheit betrachten, um mit einer unter Umständen sogar ausssichtlosen Klage Öffentlichkeit herzustellen. Ob sich allerdings ein Satriker finden wird, der die Politikerin einer anderen Partei als „Schlampe“ tituliert und darauf auch noch stolz ist, ist zu bezweifeln.

+++ In Washington fand am Sonntag das alljährliche Correspondents Dinner statt. Wegen der Abwesenheit des Präsidenten fehlte es dieser Verstaltung allerdings an Dramatik, weshalb Spiegel online von einer „heiteren Ernstrhaftigkeit“ berichtete. Der Standard erwähnt noch die Reden von Bob Woodward und Carl Bernstein. Letzterer wird so zitiert: „Quellen sind Menschen, denen Journalisten zuhören müssen, sagt Bernstein. Die sie nicht nach ihrer Ideologie, ihrem politischen Lager vorbeurteilen und in eine Schublade stecken dürften: "Fast alle Menschen, mit denen wir bei Watergate zu tun hatten, hatten die eine oder andere Verbindung zu Nixon und seiner Präsidentschaft." Quellen seien zudem wieder und wieder zu befragen: "Die beste verfügbare Version der Wahrheit liegt im Kontext, nicht ein einfachen Fakten".  Eine prägnante Formulierung.

+++ Eine Personalie ist an diesem Dienstag ebenfalls zu vermelden. Der Vizepräsident von Fox News Bill Shine ist entlassen worden. Er habe die „Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen den ehemaligen Fox News-Chef Roger Ailes übergangen und dazu beigetragen zu haben, im Sender eine frauenfeindliche Atmosphäre zu schaffen“, so die Begründung.

+++ Ganz andere Sorgen plagen dafür die türkische Regierung. Sie hat „die im Land beliebten Kuppelshows verboten. Sendungen in Radio und Fernsehen, in denen Menschen einander vorgestellt werden, um einen Partner zu finden, "können nicht zugelassen werden", hieß es in einem am Samstag im Amtsblatt veröffentlichten Dekret“, so Spiegel online. Wer sich in der Türkei über diesen Vorgang auf Wikipedia informieren wollte, hatte ebenfalls ein Problem: Das Online-Lexikon war am Wochenende nicht zu erreichen. Dafür findet morgen in Berlin ein Solidaritätskonzert für den inhaftierten Welt-Kollegen Deniz Yücel statt. Der 3. Mai ist der "Tag der Pressefreiheit". Das Konzert kann die Regierung in Ankara immerhin nicht via Amtsblatt verbieten.

+++ In dieser Woche finden die Halbfinalspiele in der Champions League statt. Das ZDF übertragt heute das Spiel zwischen Real Madrid und Atletico Madrid. In der Samstagsausgabe der FAZ ist zu dem Thema Übertragungsrechte folgendes zu lesen: „Es steht zu erwarten, dass das ZDF diesmal nicht zum Zuge kommt und die Champions League, die im Zweiten acht Millionen Zuschauer erreicht, im Bezahlfernsehen verschwindet – bei Sky und beim Streamingdienst DAZN. Bei den Olympischen Spielen wollen ARD und ZDF es derweil bei Kurzberichten belassen. Doch müssen sie auch dafür die Rechte erwerben: beim amerikanischen Network Discovery, was sich offenbar schwierig gestaltet.“ Die Berichterstattung über die erneute Meisterschaft von Bayern München wirkte übrigens in den vergangenen Tagen wie eine lästige Pflichtübung.

Das Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.

weitere Blogs

In einer Kirche hängt links neben dem Altar ein Schild mit der dreisprachigen Aufschrift No pasar - Überholverbot - no passing
In Spanien gibt es ein Überholverbot am Altar.
G*tt ist Körper geworden. Was für eine Gedanke! Birgit Mattausch geht ihm nach.
Heute erscheint der sechste und vorerst letzte Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie. Katharina Payk fragt: Wo kommt Polyamorie im Kontext von Kirche und Pfarrgemeinde vor?