Deutsch-türkische Gemengelagen bestimmen zurzeit die Medienmedien. Am Freitag machte Springers Welt öffentlich, dass ihr Redakteur Deniz Yücel "sich in Polizeigewahrsam" in der Türkei befindet. Der Ex-TAZ-Mann ist also also "der erste deutsche Journalist, der seit Verhängung des Ausnahmezustandes in der Türkei in Polizeigewahrsam genommen wurde" (Tagesspiegel). Allerdings besitzt er "die deutsche und türkische Staatsangehörigkeit" und ist "aus Sicht der türkischen Behörden ... damit ein einheimischer Journalist" (aktuelle SPON-Meldung, die außerdem damit überrascht, dass als Info-Gewährsmann auch CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer zitiert wird ...). Aus türkischer Sicht ist er also nichts Besondereres als der circa einhundertfünfzigste eingesperrte türkische Journalist.
Zur "Welle von Solidarität", von der wiederum die Welt berichtet, gehörten außer einer gereckten Faust des Berlinale-Chefs Dieter Kosslick (Fotobeweis auf der TAZ, wiederum bei welt.de) und einem Kommentar des Journalistengewerkschafts-Chefs in der TAZ (wo sich Frank Überall so diplomatisch äußert, als sei der DJV ein Organ der Bundesregierung ...) ein Autokorso in Berlin. "Schätzungen zufolge beteiligten sich mehrere hundert Menschen mit über 60 Fahrzeugen" (Funkes Berliner Morgenpost), also circa "80 Fahrzeuge mit 300 bis 400 Insassen" (das linke Neue Deutschland, das nach dem Porsche des Welt-Chefredakteurs Ulf Poschardt Ausschau hielt ...), noch genauer "rund 300 Teilnehmer in 80 Autos" (am ausführlichsten berichtet wiederum die Welt und verlinkt online sogar zur nicht im geringsten verlagsverwandten Jungle World, um die Frage warum denn ein Korso zu beantworten ...) oder doch bloß "30 Autos" (o.g. SPON-Artikel). Die Berliner Zeitung, an deren Sitzen der Korso vorbeifuhr, hat im Vorfeld berichtet, aber dann nicht mitgezählt, die Bild-Zeitung stand wohl nicht am Straßenrand, sondern meldet via Agentur, und die Zahl ist natürlich egal. Widerschein bieten die sog. soz. Medien Facebook und Twitter.
So "tröööt" (Yücel 2006 in der Jungle World, Welt aktuell) der Korso, so "verstummt" war Yücel bereits seit dem 25. Dezember 2016. Das berichtete sein Ex-Arbeitgeber, die TAZ, und stellte den Zusammenhang her mit der "linken türkischen Hackergruppe RedHack, die die Privatmails des Energieministers und Schwiegersohns von Erdogan, Berat Albayrak, im September geleakt hatte", und mit "einer Polizeioperation in den Morgenstunden des 25. Dezember 2016", bei der Journalisten verhaftet wurden. Verstummt war auch Yücels Twitter-Account @Besser_Deniz (der inzwischen "'im Namen' von Deniz Yücel" wieder bespielt wird).
Auch dazu sind einige Artikel erschienen. Gut informiert zeigt sich Michael Martens heute auf Seite 3 der FAZ (zurzeit für 45 Cent bei Blendle zu haben):
Yücel "hatte sich Ende 2016 mit der Bitte um Schutz an das deutsche Generalkonsulat gewandt", schreibt der in Athen ansässige Korrespondent. Seit Dezember habe er sich "auf dem Gelände der Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Istanbul" aufgehalten und dort ähnlich wie Julian Assange in Ecuadors Botschaft in London "gefangen" gewesen:
"Wer sich nach ihm erkundigte, bekam über Umwege aus dem Hause Springer sinngemäß zu hören, dass man über seinen Fall bitte keinesfalls berichten solle, um die Suche nach einer Lösung nicht zu gefährden. Selbstverständlich haben sich alle Informierten daran gehalten. Da alle Journalisten in der Türkei mit guten Gründen vermuten, dass sie abgehört werden, wurden Gespräche über den Fall stets nur in Umschreibungen geführt, sobald mindestens einer der Beteiligten über eine türkische Leitung sprach. Yücels Name wurde nicht genannt, es war stattdessen nur von 'der Angelegenheit' oder 'dem Fall Ypsilon' die Rede."
[+++] Auch erwähnt werden muss eine typisch deutsche Sub- bis Subsubdebatte, die derselbe Michael Martens zuvor mit einem Kommentar in der FAS über die Korrespondenten-"Entsendungspolitik" deutscher Verlage losgetreten hatte ("Können wirklich nur Journalisten mit türkischen Wurzeln über die Türkei schreiben?"). Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer, der ja gerne Öl in wohlfeile Feuer gießt, twitterte "infam"; "bemerkenswert dämlicher Beitrag eines Deutschen vom Dienst" schreibt Tagesspiegel-Chef Lorenz Maroldt in seinem heutige Morgen-Newsletter. Und Bülend Ürük hätte gerne eine Diskussion darüber auf kress.de.
Recht hat Michael Martens damit, dass Journalisten das, worüber sie berichten, nicht "lieben" sollten. Allerdings hatte er wohl bloß den Özlem- Topçu-Tweet, dass Yücel "einer,der die Türkei liebt", sei, in einen falschen Hals bekommen. Dieser Tweet bezog sich offenkundig auf staatlich türkische Prämissen, die allen verhafteten Oppositionellen mangelnde Liebe zur Türkei vorwerfen. Diskutieren ließe sich gewiss über von Martens aufgeworfene Fragen, z.B. weil zu den sehr vielen deutschen Rechtsideen, die die Erdogan-Türkei nicht teilt, auch die doppelte Staatsbürgerschaft gehört. Allerdings ließe sich besser diskutieren, wenn Deniz Yücel wieder zuhause und sonst nichts Wichtiges los ist.
"Und noch absurder finde ich, diese Debatte überhaupt zu diesem Zeitpunkt anzustoßen, da wir gerade ganz andere Sorgen haben",
[+++] antwortet bei Facebook besonnen Hasnain Kazim, der pakistanisch-stämmige Deutsche, der bei SPON auch den bislang überzeugendsten Kommentar zur Yücel-Frage schrieb:
"Wir dürfen zu diesem breitbeinigen, testosterongeladenen Politikstil nicht mehr schweigen. Es genügt nicht, der türkischen Regierung leise zu sagen, sie solle das doch bitte mal unterlassen - aus lauter Furcht, Erdogan könne, wie schon oft angedroht, den Flüchtlingsdeal platzen lassen. Es ist an der Zeit, deutliche Worte zu finden und politische und wirtschaftliche Konsequenzen folgen zu lassen auf das, was in der Türkei geschieht: die Abschaffung von Demokratie und Freiheitsrechten."
Zumal die Erdogan-Regierung unverfroren und unbehelligt nach Deutschland hinein provoziert.
[+++] Ebenfalls zur deutsch-türkischen Gemengelage gehört die Veranstaltung der türkischen Regierungspartei AKP mit ihrem Ministerpräsidenten Binali Yildirim in der König-Pilsener Arena in Oberhausen. Die Medienfreiheit im Umfeld näherte sich der in der Türkei herrschenden an, berichtet erneut SPON mit Bezug auf TAZ- und ozguruz.org-Reporter, denen "trotz Akkreditierung ... der Sicherheitsdienst der AKP" den Zutritt verweigerte.
"Pressefreiheit: Die AKP mag sie auch in Deutschland nicht",
kommentiert Stefan Laurin, einer der Betroffenen, auf ozguruz.org.
Worum es in Oberhausen noch mal ging: um Stimmen türkischer (und deutsch-türkischer) Staatsbürger bei der Abstimmung am 16. April zur türkischen Verfassungsreform, bei der "dem Staatspräsidenten unbegrenzte Kompetenzen eingeräumt werden" sollen. Der ozguruz.org-Chefredakteur Can Dündar fasst in der aktuellen Zeit (inzwischen frei online) zusammen:
"Vorige Woche startete er die Kampagne für das neue Regime und behauptete gleich in der ersten Rede, wer Nein sage, wolle das Land spalten. 'Das Ergebnis im Volksentscheid wird auch ein Signal für die Todesstrafe sein', verkündete er. Für die Ja-Kampagne stehen der Regierung alle staatlichen Instrumente und die Medien zur Verfügung, die Nein-Sager dagegen haben aufgrund des Ausnahmezustands keine Möglichkeit für Werbung. In der Hauptstadt Ankara sind Kundgebungen verboten. ... Der Moderator der meistgesehenen Morgensendung wurde entlassen, als er erklärte, er werde Nein sagen. Der Vorsitzende und elf Abgeordnete der zweitgrößten Oppositionspartei sitzen weiterhin in Haft."
Dass es auch in Oberhausen um Todesstrafen-Propaganda ging, zeigt zum Beispiel dieses Video (auf Twitter), das ein deutsch-türkischer Bild-Zeitungs-Mitarbeiter führte. Die türkische Regierung profitiert also von der deutschen Gesetzeslage, die zwar bis vor kurzem noch "Majestätsbeleidigung" ausländischer Staatsoberhäupter für anklagbar hielt, aber dagegen, dass Vertreter autoritärer ausländischer Regime einen bei ihnen zuhause eindeutig unfair geführten Akklamations-Wahlkampf mitten in Deutschland weitertreiben, nichts einzuwenden hat. Auch wenn sie damit, überdies, zur von ganz unterschiedlichen Seiten laufenden Radikalisierung mitten in Deutschland beitragen.
Darüber sollte dringender diskutiert werden als über die generelle Frage, wie Deutschtürken über die Türkei berichten.
[+++] Was noch mal ozguruz.org ist: das deutsch- und türkischsprachige Portal von Dündar und correctiv.org – also den gemeinnützigen, stiftungs- und spendenfinanzierten Rechercheuren, die seit Anfang des Jahres mit ihrem Engagement für Facebook für Furore sorgen.
Endlich scheint das Correctiv als Facebooks deutscher Factchecking-Partner nicht mehr alleine dazustehen. Allerdings, wenn David Schraven und Co gewusst hätten, wer als Zweiter in ihr Boot steigen wollen würde, würden sie lieber weiterhin alleine dastehen, lässt sich vermuten.
Jedenfalls meldete Spiegel Online am Freitag gerne, dass "zumindest 'Focus Online' mitmachen" wolle. Das gab großes Hallo in diesem Internet (Widerschein z.B. bei wuv.de). Für die FAZ hat Michael Hanfeld nicht nur mal wieder das Bock-Gärtner-Sprichwort hervorgeholt, sondern auch noch bei Burda nachgefragt: "doch sei die Sache noch nicht zu Ende verhandelt, eine Entscheidung nicht getroffen".
[+++] Für Facebook äußert sich traditionell niemand Verantwortliches in Deutschland. Dafür hat sich global, unter der Überschrift "Building Global Community", Mark Zuckerberg persönlich geäußert.
Eine Kostprobe des ungefiltert fürchterlichen PR- optimischen Problemelösen-Sounds, von dem Ursula Scheer in der FAZ schrieb, er atme "ein Sendungsbewusstsein, das es mit dem von Scientology locker aufnehmen kann":
"Today we are close to taking our next step. Our greatest opportunities are now global -- like spreading prosperity and freedom, promoting peace and understanding, lifting people out of poverty, and accelerating science."
Das für Diskussionen um Facebooks Rolle entscheidende Wort "Infrastruktur" taucht wiederholt ebenfalls auf, z.B. so:
"For the past decade, Facebook has focused on connecting friends and families. With that foundation, our next focus will be developing the social infrastructure for community -- for supporting us, for keeping us safe, for informing us, for civic engagement, and for inclusion of all."
Eine pointierte, ebenfalls englischsprachige Analyse des "Mark Zuckerberg Manifesto" hat Adrienne LaFrance für theatlantic.com angestellt. Pointiert ist sie auch, weil sie versucht, was in deutschsprachigen Texten häufig fehlt: Überblick über die wenig transparenten, aber ungeheuren Geldströme zu geben.
"Facebook already has the money. The company is absolutely dominating in the realm of digital advertising. It notched $8.8 billion in revenue last quarter – more than $7 billion of which came from mobile-ad sales. One analyst told The New York Times last year that 85 percent of all online advertising revenue is funneled to either Facebook or Google – leaving a paltry 15 percent for news organizations to fight over. Now, Zuckerberg is making it clear that he wants Facebook to take over many of the actual functions – not just ad dollars – that traditional news organizations once had."
"The Mark Zuckerberg Manifesto Is a Blueprint for Destroying Journalism", lautet LaFrances Überschrift,
"Zuckerberg doesn’t want Facebook to kill journalism as we know it. He really, really doesn’t. But that doesn’t mean he won’t",
das tl;dr, dessen Emotionalität Zuckerberg wahrscheinlich gefiele.
Schon vor den Hintergründen, dass ziemlich wahrscheinlich auch in Deutschland gut 85 Prozent der Online-Werbeeeinahmen an Google und Facebook gehen und die wenigen hierzulande tätigen Mitarbeiter dieser Unternehmen daran arbeiten, diesen Anteil zu erhöhen, sollten sich das Correctiv (oder die Stiftungen, die es bespenden) überlegen, ob sie aus dem Facebook-Boot nicht besser doch noch wieder aussteigen.
+++ Noch ein dickes Ding: Das Medium, das am intensivsten und erfolgreichsten auf Auskunftsrechte gegen die Bundesregierung klagt, ist ausgerechnet der Tagesspiegel. Zerstört er nun die uralte Hauptstadtjournalismus-Gepflogenheit des Hintergrundgesprächs? Jedenfalls hat das Verwaltungsgericht Berlin "das Kanzleramt nach einer Klage des Tagesspiegel-Redakteurs Jost Müller-Neuhof jetzt zu einer teilweisen Transparenz in dieser Praxis verpflichtet", meldet das Berliner Blatt in eigener Sache. Auch in dieser Frage treffen gute Argumente aufeinander: "Vor Gericht wies das Kanzleramt auf die Interessen der Journalisten hin, die Gespräche zählten zum 'Kernbestand des politischen Journalismus'. In die 'grundrechtlich geschützte Vertrauenssphäre von Medien und Informanten' dürfe nicht auf diese Weise eingegriffen werden, der Informationsfluss würde versiegen", lautet eines der Hintergrundgespräch-Befürworter. Andererseits ist "das Zusammenspiel von Medien und Regierung" ja längst "vielfach in die Kritik geraten, dabei geht es um die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung", argumentiert Müller-Neuhof. +++ "Gegen den Hinterzimmerjournalismus", fasst es Markus Hesselmann auf Twitter kürzer, und weitere Diskussionen sind dort im Gange ... +++
+++ Indes hat, wiederum auf Twitter, der Kanzleramts-Chef, Talkshow-Dauergast und Gratisjournalismus-Fan Peter Altmaier einen guten Tipp von Altpapier-Autor Ralf Heimann bekommen ... +++
+++ "Die Massenmedien haben Facebook häufig und gern für die bessere Verbreitung ihrer Artikel genutzt. Und nun wundert man sich in der Presse, wieso viele Nutzer Facebook für ein Nachrichtenmedium halten. Was es nicht ist." Sagt der Friedrichshafener Medientheoretiker Udo Göttlich, "der mit dem Soziologenklassiker Niklas Luhmann die Gegenwart deutet", am Ende eines Welt-Kurzinterviews, das mit der Frage "Niklas Luhmann hat gesagt: 'Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Medien.' Gilt das noch?" beginnt. +++
+++ "Fast die Hälfte der Journalisten fühlten sich vor allem durch Herausgeber und Chefredakteure zur Social-Media-Kommunikation gedrängt". Hat der Tsp. einer schwedischen Studie entnommen. +++
+++ Der in Deutschland angeklagte, aber nicht mehr in Deutschland weilende Ex-TAZ-Redakteur hat das in diesem Korb erwähnte Geldstrafen-Urteil akzeptiert (FR/ DPA). +++
+++ Donald Trumps Rezept, "sich als unverstandenes Genie darzustellen, dem 'die Medien' aus Neid an den Kragen wollen", ist nicht aufgegangen für Felix "PewDiePie" Kjellberg. Gut so, denn "die Absurdität der Online-Dienstleistungs-Wirtschaft darstellen" kann man auch "ohne damit Inhalte zu produzieren, die von rechtsradikalen Gruppen und Webseiten gefeiert werden". Meint hier nebenan in der Rubrik "Die Frage der Woche" evangelisch.de-Redaktionsleiter Hanno Terbuyken. +++ Siehe auch FAZ. +++
+++ Auf der SZ-Medienseite geht's kostenpflichtig um den (ebenfalls schwedischen) Reporter Fredrik Önnevall, der "für eine TV-Dokumentation ... einen jungen Syrer auf dessen Flucht nach Schweden" begleitete und der darum nun "als Menschenschmuggler verurteilt" zu 75 Sozialstunden und zwei Monaten Haft auf Bewährung wurde. +++
+++ Und die 2017 schon aus sehr unterschiedlichen Ecken – vom "internetpolitischen Sprecher" der CDU, Thomas Jarzombek (Funke-Medien), aber auch von netzpolitik.orgs Markus Beckedahl (Altpapier) – gekommene Forderung, zur Medienkompetenz-Förderung einen "7. Sinn" fürs Internet so wie einst für den Straßenverkehr zu produzieren will der WDR nun also nicht erfüllen. "Der WDR betonte, das Verbrauchermagazin 'Markt' greife bewusst jede Woche ein bis zwei Themen mit Bezug zur digitalen Lebenswelt auf. Die 'Aktuelle Stunde' sende bereits seit 20 Jahren die Rubrik 'Angeklickt' ..." (Tsp./ EPD). Tatsächlich ist der medien-antike "7. Sinn" auch weniger wegen seines famoses Konzeptes in so vielen Erinnerungen verankert, sondern weil er vor allem in der Zeit enstand, in der die Bewegtbild-Vielfalt aus drei bis fünf Fernsehprogrammen bestand. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.