Der Hauptstadtjournalismus bebt ein wenig

Der Hauptstadtjournalismus bebt ein wenig
... aber nicht aus eigener Kraft: der Stern-/Zeit-Scoop um den Doch-nicht-SPD-Kanzlerkandidaten. Welche Medien-Koryphäen auf falschem Fuß erwischt wurden. Und die Geburtstags-Party im Spiegel-Hauptstadtbüro. Außerdem: Neues von Berlins ältester Hauptstadtzeitung. Und kommt eine ganz neue gedruckte (!) Tageszeitung heraus?

Hui, eine personelle Überraschung in der deutschen Bundespolitik. Hatte es nach Christian Wulffs Nominierung für das Amt des Bundespräsidenten noch eine gegeben?

Jedenfalls ist der Hauptstadtjournalismus in heller Aufregung, ein bisschen wohl auch, weil diese Überraschung medial am Hauptstadtjournalismus erst mal komplett vorbeigegangen war. Medial wurde sie ausschließlich aus der alten Kaufmanns- und immer noch auch Medien-Stadt Hamburg bestritten. Sichtbarster Ausdruck ist die Tatsache, dass die bekannte Illustrierte Stern, nach der Medienbeobachter seit jeher immer erst am Donnerstag am Kiosk zu fragen gewohnt sind, bereits am heutigen Mittwoch neu erschienen ist. [So flott, dass shop.stern.de und auch Blendle am mittleren Mittwochmorgen noch gar nicht nachgezogen haben... ]

Darin ist "das vollständige Gespräch mit SPD-Chef Sigmar Gabriel" enthalten, in dem Gabriel "neben den politischen Gründen auch 'private Gründe', die ihn zu seinem Verzicht bewogen haben", nennt, wie Chefredakteur Christian Krug auf stern.de knapp, aber mit der Liebenswürdigkeit, die nur der sog. People-Journalismus aufbringen kann, zusammenfasst:

"Seine Entscheidung ist eine ehrliche Bestandsaufnahme seiner Partei, aber auch ein ganz persönliches Fazit von ihm als Mensch."

Ansonsten ist im Internetauftritt des Stern noch eine stolze "Presseschau" zu lesen, viel mehr nicht dazu. Schließlich taugt die weltgrößte Abspielfläche für Dschungelcamp-Neuigkeiten als Rahmen für etwas, das ansatzweise seriös wirken soll, wirklich nicht.

Und solo-exklusiv hatte die Illustrierte die Gabriel-News dann doch nicht, denn

"welche privaten Motive und politischen Erwägungen den SPD-Chef zum Verzicht auf die Kanzlerkandidatur bewogen haben, hat Gabriel" – parallel – "dem stellvertretenden ZEIT-Chefredakteur Bernd Ulrich in den vergangenen sechs Monaten in vielen Gesprächen dargelegt",

aus denen Ulrich dann ein "großes Porträt über SPD-Chef Sigmar Gabriel" gestaltet hat, welches in der Ausgabe 5/ 2017 der ebenfalls Hamburger Wochenzeitung zu lesen sein wird (zeit.de). Die Zeit ist dann doch zu stolz, um wegen eines Teil-Scoops ihren Erscheinungstermin vorzuverlegen, und wie üblich erst ab dem morgigen Donnerstag zu haben.

Hat sich Gabriel also der Zeit früher oder länger anvertraut als dem Stern? Nicht unbedingt. Nach dem, was der feinfühlige Stern-Chef Krug gestern abend im ZDF-"heute-journal" (ab Min. 2.20) sagte, könnte Gabriel mit der Ilustrierten sogar seit noch längerem als nur seit sechs Monaten gesprochen haben.

Jedenfalls erschienen beider Medien Vorabmeldungen, des Stern wie der Zeit, gestern nachmittag nach 15.00 Uhr. Vorher online war ein ebenfalls in Hamburg ansässiges reines Onlinemedium. Der Schnelligkeits-Nannenbambi gebührt meedia.de, wie die Welt aus Berlin und die FAZ aus Frankfurt jeweils bestätigen:

"Um 14.34 Uhr dann hatte der Branchendienst 'Meedia' erspäht, womit das Magazin 'Stern' seine nächste Ausgabe aufmacht, die nicht erst am Donnerstag, sondern einen Tag früher kommt als sonst",

notiert Michael Hanfeld. Das gilt dieser meedia.de-Meldung, die wiederum die Schuld oder Ehre an die vielen fleißigen Hände weiterreicht, die – anders, als es im Internet läuft – eben ran müssen, bevor ein Presseprodukt den Kiosk erreicht:

"Wohl aufgrund der dadurch erfolgten früheren Heftlieferung kursierte die Ausgabe mit der Breaking News bereits am Dienstagmittag in Grossisten-Kreisen."

Tatsächlich war auch das Pressegrosso-Onlinemedium dnv-online.net gestern mit einer eigenen Meldung am Start. Ja, Welt-Redakteur Daniel Friedrich Sturm, der sich in seinem Artikel stolz zeigt, "kurz vor 15 Uhr" von Gabriel persönlich ange-"blafft" worden zu sein, hat gehört:

"Offenbar hatte Gabriel mit der 'Stern'-Redaktion vereinbart, die Nachricht seines Rückzugs parallel zum Gespräch der SPD-Spitze zu veröffentlichen. ... Bereits am Montag soll das lange Gespräch mit Gabriels sensationeller Nachricht gedruckt worden sein."

Was Sturm (der mit einem Artikel von gestern morgen übrigens tatsächlich richtig gelegen hatte) dann besonders interessiert, ist, welche SPD-Leute von der Gabriel-Schulz-Überraschung besonders überrascht worden sind. Was meedia.de und die FAZ interessiert: welche Medien-Koryphäen auf besonders falschem Fuß erwischt wurden. Da wären erstens die Bild-Zeitung, die tatsächlich schnell mit einer gewundenen Erklärung zu erklären versuchte, "Warum BILD falsch lag" (u.a.: "Noch vergangene Woche bot die SPD-Zentrale interessierten Journalisten Termine an, Gabriel im Vorfeld der eigentlich für den 29. Januar geplanten Bekanntgabe der Entscheidung persönlich zu begleiten").

Zweitens der ja auch als ARD-Reporter aktive Reinhold Beckmann, auf den Hanfeld in seiner insgesamt irrlichternden Glossenkolumne ("Plötzlich wirkt es wie ein Scoop mit perfektem Timing. Nur schade, dass Olaf Scholz als der Dritte im Bunde vielleicht der beste Kandidat gewesen wäre") zu sprechen kommt. Und drittens, sehr viel zeitnäher: Noch am Dienstagmorgen

"orakelte der stellvertretende Spiegel-Chefredakteur Dirk Kurbjuweit im 'Die Lage'-Newsletter des Magazins noch, ob wohl am Abend ein frisch gebackener Kanzlerkandidat zum Fest zum 70. Jubiläum des Spiegel erscheinen werde. Gemeint war Gabriel ..." (meedia.de).

Was seit gestern nachmittag im politischen Berlin abläuft, wird seitdem in der ganzen, quantitativ eindrucksvollen Breite der deutschen Medienvielfalt geschildert. Um aus einem dann wieder bestens informierten Spiegel-Artikel zu zitieren: Gestern, während Sigmar Gabriel vor der SPD-Bundestagsfraktion erklärte, was zu diesem Zeitpunkt nur hellwache Medienbeobachter und allerhand Hamburger wussten, war

"Angela Merkel ... natürlich auch im Bilde. Anmerken lässt sie sich in der Fraktionssitzung" ihrer CDU-Fraktion "zunächst nichts, wirklich aufmerksam scheint aber auch sie Steinmeier nicht zu lauschen: Pausenlos tippt sie in ihr Handy, so berichten es Teilnehmer der Sitzung",

berichtet SPON, bevor es zur Analyse schreitet:

"Gabriels Befreiungsschlag kann der Partei einen Motivationsschub verpassen. Schlägt sich dieser auch in den noch immer katastrophalen Umfragewerten nieder und verringern die Sozialdemokraten kurzfristig den Abstand zur Union, könnte das auch im Unionslager für Nervosität sorgen. Und das in einer sensiblen Phase: Merkel kann sich der Unterstützung der eigenen Leute seit der Flüchtlingskrise nicht mehr zu hundert Prozent sicher sein. Zwar hatten sich die Unionswerte gerade langsam wieder der 40-Prozent-Marke angenähert ... Kleine Rückschläge aber können große Auswirkungen haben",

und am Ende könnte die Bundestagswahl so oder so oder so ausgehen. Am außer natürlich unter Hauptstadtjournalisten eher schlechten Ruf des deutschen Hauptstadtjournalismus trägt zum Teil auch der Hauptstadtjournalismus selber Schuld: weil er so oft so Überflüssiges aufschreibt.  

Immerhin verstehen Hauptstadtjournalisten aber zu feiern. Die von Kurbjuweit am frühen Dienstagmorgen so launig erwartete Spiegel-Party fand natürlich statt, wie er am heutigen frühen Morgen so literarisch newsletterte, dass Benjamin von Stuckrad-Barre Spaß haben dürfte und alle Spiegel-Fans sich schon auf den 17-seitigen Leitartikel im nächsten Heft freuen:

"Um halb neun kam Angela Merkel. Wir haben uns mit ihr in das Zimmer von Büroleiter Michael Sauga gesetzt, die Kanzlerin und ein paar Leute von SPIEGEL und SPIEGEL ONLINE. Merkel redete, über Trump, über die Medien, über die Stimmungslage in Deutschland. Wenn die Tür aufging, weil Essen oder Getränke reingebracht wurden, dröhnte das Fest herein, Stimmen, Musik, ziemlich laut. Dann kam ein Überraschungsgast, der erste. Die Schauspielerin Martina Gedeck stellte sich Merkel vor, die aber wusste, dass diese Frau Martina Gedeck ist. Gedeck setzte sich, schwieg, hörte zu. Merkel redete weiter, Tür auf, Lärm, Tür zu, Merkels Stimme, immer noch zu Trump. Hinter ihr drei Skulpturen, kleine Männer mit seltsamen Köpfen, wie eine Axt, wie ein Hammer ..."

Ob wohl jemand vom Spiegel, in dessen Hauptstadtbüro die Veranstaltung ja stattfand, diese seltsamen Skulpturen dahingestellt hat? Hach je, der Hauptstadtjournalismus.

[+++] Wobei es der Journalismus in Berlin auch nicht leicht hat. Insbesondere der sozusagen indigene Hauptstadtjournalismus. Neues von der Berliner Zeitung, die es schon gab, als Ostberlin noch Hauptstadt eines völlig anderen Staates war, berichtet die Süddeutsche auf ihrer Medienseite. Nun haben sich der Verlag, DumontSchauberg aus Köln, und Gewerkschaften auf einen Sozialplan zur laufenden Schrumpfungsfusion mit dem Boulevardblatt Berliner Kurier geeinigt. Das Interessanteste ist die unten am Rande eingeflochtene Notiz, dass neben dem Schrumpfungsfusion-Plan auch die komplette "Schließung der Berliner Zeitung erwogen worden sein" soll.

Man darf die gedruckte Berliner Zeitung, deren Mitarbeiter unter enorm schwierigen Bedingungen häufig noch ein gutes Blatt machen, nicht mit ihrem Internetauftritt verwechseln, auf dem tagesaktuell das Dschungelcamp mindestens sechsmal größer erscheint als Sigmar Gabriel. Aber: Einfach das Portal berliner-zeitung.de zuzumachen, könnte den Berliner Journalismus mit einem Schlag erheblich verbessern.
 


Altpapierkorb

+++ Falls da nicht etwas vorab publik wurde, das eigentlich einem ausgefuchsten, streng auf den 1. April ausgerichteten Zeitplan folgte, ist das eigentlich der Medien-Scoop fast schon des Jahres: "Neue Tageszeitung für Hamburg geplant", also eine gedruckte, meldet das schon erwähnte Grossisten-Portal dnv-online.net. Herausgeber soll ein eher unbekanntes Unternehmen der Energiebranche sein. Siehe auch turi2.de. +++

+++ Das gestern (Altpapier) in der deutschen Hauptstadt online gegangene, vor allem auf die presse-unfreie Türkei ausgerichtete  Portal ozguruz.org mit Chefredakteur Can Dündar und correctiv.org als Herausgeber, ist zunächst "nur für die kommenden sechs Wochen" finanziert. Das berichtet Karen Krüger in der FAZ. "Noch sucht Correctiv Unterstützer, um das Projekt langfristig finanzieren zu können." +++

+++ Mal wieder was Neues von der Otto-Brenner-Stiftung: Die jüngste Studie bekam Katharina Riehl von der Süddeutschen vorab und beschreibt sie und das "Interpretations-Pingpong", das sich mit ihr spielen lässt, heute ausführlich. Es ist "die dritte Studie einer Reihe, die sich mit den Inhalten der Dritten Programme der ARD beschäftigt", und zwar unterm Titel "Unterhaltung aus Bayern, Klatsch aus Hessen?" mit denen des Bayerischen und des Hessischen Rundfunks. Hier geht's zur Studie als PDF. +++

+++ Das US-amerikanische Portal Buzzfeed, das zuletzt in Donald-Trump-Zusammenhängen besonders auffiel (nicht unbedingt positiv, siehe Altpapier), "expandiert gewöhnlich in Etappen: Erst kommt der besagte 'Buzz', dann irgendwann auch echte News und damit (vielleicht) auch die Investigation. ... Nun steht auch der deutsche Ableger offensichtlich kurz vor der zweiten Phase", berichtet Daniel Bouhs in der TAZ. +++

+++ Ungewöhnliches bei taz.de: der Ansatz, nicht aus Herzenslust oder anderen Emotionen und aus der Ferne auf die Trumps einzuhauen, sondern das Video bzw. viel geteilte GIF, das "zeigt, wie sich die Gesichtszüge der eben noch lächelnden Melania Trump in dem Moment verändern, in dem ihr Mann sein Gesicht von ihr abwendet", prozedural zu erklären. Das tut Detlef Guertler im Wortistik-Blog. +++

+++ Außerdem verdient die wieder schöne TAZ-Titelseite mit Sigmar Gabriel drauf ("Er kann es") erwähnt zu werden. Zum Hauptstadtjournalismus zählt die TAZ ja ebenfalls. +++

+++ Viel Lob für den heutigen 20.15-Uhr-ARD-Film "Wunschkinder", "ein herausragend recherchiertes Drama über ein deutsches Paar, das in Russland ein Kind adoptieren will - ganz ohne Klischees und moralische Überlegenheit" (SZ), einen "beeindruckenden ARD-Film" (Tsp.), einen "erstaunlichen ..., der nicht polarisiert, nicht mit den Gefühlen des Zuschauers spielt und trotzdem alles erdenklich Gute wünschen lässt" (Heike Hupertz, FAZ). +++ "Und für die verschiedenen Rückschläge entschädigt "Wunschkinder" mit einem gleich zweifach zu Tränen rührenden Schluss" (Tilmann P. Gangloff hier nebenan). +++

+++ Inzwischen frei online: der gestern hier ganz oben erwähnten FAZ-Artikel über "Gesamtwahrheit" und den deutsch-chinesischen Mediendialog. +++

+++ Neues zum Thema sog. Fake-News: Der Zeitungsverlegerverband BDZV findet, "die Auseinandersetzung mit sogenannten Fake-News durch Medien, Politik und nicht zuletzt das Publikum selbst sei wichtig, werde mittlerweile aber übertrieben". Hauptgeschäftsführer Dietmar Wolff "machte deutlich, dass Zensurmaßnahmen, und seien sie noch so gut gemeint, nur eine Scheinlösung böten" (BDZV) und hat damit so recht, wie Zeitungsverlegerverbands-Vertreter keineswegs immer haben. +++ Auf der FAZ-Medienseite geht's u.a. um eine Untersuchung, die "erstmals die Behauptung wissenschaftlich untersucht, dass Trump seinen Wahlsieg weitverbreiteten 'Fake News' auf Facebook verdanke". Die Studie der Ökonomen Hunt Allcott und Matthew Gentzkow "kühlt die Fake-News-Hysterie ab", fasst Philip Plickert zusammen. +++ Und die Süddeutsche stellt im Politikressort die "East Strat Com Task Force" der EU vor, die "mit derzeit elf Mitarbeitern ... Puzzlestücke zusammen[setzt], die das Gesamtbild einer von Russland aus gesteuerten Desinformationskampagne ergeben". +++

+++ Weil es in der Echtzeit fast unterging: Berichte vom Kongress der Fraktion "Europa der Nationen und Freiheit" (ENF) des Europäischen Parlaments, die u.a. durch die eklektizistische Ein- und vor allem Ausladungspolitik des AfD-Mannes Marcus Pretzell Furore machte und am Wochenende in Koblenz stattfand: Die zugelassene Pressearbeit beschreiben Nina Kugler und Marcus Schwarze (kostenpflichtig) in der lokalen Rhein-Zeitung. FAZ-Vertreter Justus Bender war dann doch "versehentlich hineingelassen" worden (FAS). +++

+++ Und zum Schluss große Worte von Frederik Obermaier and Bastian Obermayer, also auf Englisch, die ein wenig nach der Synopsis einer weiteren Superheldenfilm-Fortsetzung klingen, aber jedenfalls klingen: "Donald Trump is now president. This challenges many of us, not least members of the press. Countless reporters are still shaken and stunned by how he singled out a CNN reporter, one of the most respected news outlets in the world, to attack and humiliate him during his first press conference since winning the elections. Worryingly, none of his fellow journalists in the room stood up for him at the time. This wasn’t Trump’s first attack on the press, and it certainly won’t be his last. The first White House press briefing, held on Saturday, featured bullying, threats and unproven claims. That is why a new level of solidarity and cooperation is needed among the fourth estate ..." (theguardian.com). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

 

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