Kollateral-Diskriminierung, Nafri, Grüfri?

Kollateral-Diskriminierung, Nafri, Grüfri?
Schon drei Topkandidaten (und der Geheimtipp "präfaktisch") fürs Un-/ Wort des Jahres! 2017 übererfüllt souverän alle Erwartungen. Das jüngste Kölner Silvester in sozialen Medien und bereits in der Debatten-Debatte gedruckter Zeitungen. Das Twittern der Grünen. Aber auch: was in Das-ändert-sich-2017-Überblicken nicht vorkam; was seit einigen Jahrzehnten vor Gerichten verhandelt wird; was Silvio Berlusconi als feindlich betrachtet.

2017 ist noch nicht zu einem Prozent vorbei, und schon knistert das Rennen ums Unwort des jungen Jahres vor Spannung.

###extern|twitter|lorz/status/815974975391801345###

Bernd Ulrichs (sowohl kritisch wie auch affirmativ anwendbarer) Begriff "Kollateral-Diskriminierung" dürfte ein heißer Kandidat sein. Ob er das Zeug hat, das süffigere "Nafri" zu überflügeln? Ob das Bild-Zeitungs-typische "Grüfri" eingreifen kann? Als Geheimtipp sollte man "präfaktisch" auf dem Zettel behalten, das sich womöglich aber auch als Wort des Jahres eignen könnte. Diesen Begriff schöpfte Jasper von Altenbockum in einem Online-only-"P.S." zu seinem Kommentar übers Kölner Silvester, den er für die Print-FAZ verfasst hatte, noch bevor die Debatte bzw. "Debatte" ums Kölner Silvester richtig viral ging.

Jedenfalls übererfüllt 2017 alle Erwartungen, die 2016 nahelegte und die bekanntlich keine guten waren. Das dennoch Positive: Bislang benötigt diese Übererfüllung weder neue schwere Gewalttaten im Inland, noch Fake-News (die inzwischen in den Mündern sämtlicher politischer Parteien geläufig sind). Sie speist sich ganz einfach aus der Dynamik der sog. sozialen Medien.

Die Kölner Polizei bedauerte also eine womöglich unglückliche Handlung, eine Wortwahl, deutlich schneller, als sie im Vorjahr eine in ganz anderen Dimensionen völlig anders misslungene Aktion (sowie die anschließend, in den ersten Pressemitteilungen 2016 gewählten Worte) bedauert hatte. Und alles, die Aktion, das Bedauern sowie die Reaktionen darauf, zog in gestiegener Windeseile jede Menge weiterer Reaktionen "in alten und neuen Medien" (meedia.de) nach sich, avancierte mitunter zum "Viralhit" (meedia.de) und zog zumindest dann auch weiteres Bedauern bzw. "Rückzieher" nach sich.

[+++] Vielleicht am anrührendsten, was Markus Feldenkirchen bei SPON kommentierte:

"Wenn Kritiker wie die Grünen-Vorsitzende Simone Peter nun sagen, es könne nicht sein, dass die Polizei in der Silvesternacht Menschen 'alleine aufgrund ihres Aussehens überprüft' habe, muss sie sich schon die Frage gefallen lassen, ob sie noch Zeitung liest."

Diese Frage lassen sich die meisten, die in sog. soz. Medien vorn dabei sind, gerne gefallen. Einige verstehen sie wahrscheinlich nicht mehr.

In Leitartikeln gedruckter Zeitungen von heute, die überwiegend schon gestern online gingen, geht's ansonsten um "die Debatte" bzw. Debatten:

"Es ist also gut, wenn diese Debatten auf diese Einsätze folgen. Jedenfalls dann, wenn sie der Selbstvergewisserung dienen. Wenn sie folgen, um ideologische Kämpfe in Sachen Flüchtlingspolitik fortzuführen, sind sie so falsch wie enervierend." (Ariane Bemmer, Tagesspiegel).

"Es ist eine Debatte am falschen Ort zur falschen Zeit und zum falschen Anlass" (Heribert Prantl, SZ, nicht ohne einem "kommentierenden Kollegen" den Vorwurf, "sich ... an die Volksverhetzung heran[zu]wanzen" mitzugeben – dem oben als Schöpfer des Wortes "präfaktisch" erwähnten Kollegen).

"Warum die Dinge in der Silvesternacht 2015 in Köln und andernorts aus dem Ruder liefen und insbesondere die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen handlungsunfähig und sprachlos war, unterstreicht die jetzige Debatte auch – da herrschte nämlich die Furcht vor einer Polemik, wie wir sie gerade erleben", schreibt Michael Hanfeld auf seiner FAZ-Medienseite, wobei er variiert, was Frank Lübberding zuvor bei faz.net kommentierte:

"Jetzt weiß jeder, was passiert wäre, hätte die Polizei schon zu Silvester 2015 entschlossen gehandelt. Die Debatte zu Neujahr 2017 ist somit ein Lehrstück über den Einfluss sozialer Netzwerke auf den politischen Prozess."

Wobei an solchen Lehrstücken ja bereits im letzten Jahr kein Mangel herrschte. Frank Lübberding hat viele davon im Altpapier aufgeschrieben. Und dass zumindest in der Mitte der Gesellschaft bzw. dem, was davon noch übrig ist, aus solchen Lehrstücken nicht gelernt wird, dafür jedoch an den Rändern der Gesellschaft (oder ohne zu lernen profitiert wird), haben ja auch schon etliche Lehrstückchen gezeigt.

[+++] Immerhin, auch zu diesem Thema herrscht schöne Meinungsvielfalt. "Sie", die diesjährige Kölner-Silvester-Debatte "ist (zumindest sieht es jetzt so aus) differenziert und reflektiert, also angemessen", heißt's zumindest in einem bildblog.de-Kommentar. Leider führt  Johannes Kram außer einer naturgemäß älteren Günter-Schabowski-Anekdote überhaupt keine konkreten Beispiele an. Es bleibt offen, aus welcher sauber kuratierten Filterblase er diesen Eindruck gewinnen konnte.

Am instruktivsten, würde ich sagen, ist eine knapp zweieinviertel Jahre alte TAZ-Kolumne von Peter Unfried über das Twittern der Grünen:

"Die Sorge ist ja: Da die digitale Echtzeitanwendung häufig als belangloses Geblubber interpretiert wird, könnte das den komplexen Grünen-Inhalten auch passieren. Wie die Parteispitze sich das so vorstellt, zeigt die Bundesvorsitzende Simone Peter (@peter_simone). Prioritäres Artikulationsmittel ist demnach das Ausrufezeichen (signum exclamationis). Dieses wird nach Wunsch- und Aufforderungssätzen verwendet und ist damit originär grün und ein Muss! Wie das Wort 'muss' auch. Es 'muss' immer was ('Bundesregierung muss'). Oder es 'darf' etwas 'nicht' ('Hilfe darf nicht länger verweigert werden!') Ein Twitter-Peter-Satz aus dem Lehrbuch: 'Die Gewalt in Nahost muss so schnell wie möglich gestoppt werden!' Man beachte die raffinierte Passivkonstruktion, die offen lässt, an welches handelnde Subjekt der moralische Appellativ sich richtet. ..."

[+++] Gäbe es Auswege? An dieser Stelle besteht natürlich die Chance, sich weniger um diese Debatte(n)" weniger zu kümmern, stattdessen um  Medien-Themen, die wichtig sind oder werden könnten, aber nicht viral gehen. Etwa, weil schon rein rechnerisch nicht alle viral gehen können, weil sie so komplex sind, dass es schwer fällt, auf Anhieb eine Meinung dazu zu äußern, oder weil sie in den Mainstream-Medien (die im Großen und Ganzen weiterhin gerne auf den gleichen Euphorie- und Empörungs-Wellen unterwegs sind), nicht groß vorkommen.

Z.B., etwas, das in den online beliebten Das-ändert-sich-2017-Überblicken nicht vorkam:

 "Seit Silvester darf der BND offiziell Daten aus ganzen Telekommunikationsnetzen mit Auslandsverkehren auch im Inland komplett abschöpfen, ein halbes Jahr lang auf Vorrat speichern und mit Dritten austauschen".

Stefan Krempl berichtet bei heise.de sachlich und mit weiterführenden Links, wie die Konsequenzen aus den NSA-Untersuchungsausschüssen sich ungefähr darauf reduzieren, dass der Bundesnachrichtendienst nun auch offiziell "im NSA-Stil" überwachen darf. Obwohl das Gesetz den raffiniert gewählten Retro-Namen "Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung" trägt, wurde das Problem des "hochgradig illegalen" bis "rechtswidrigen" Anzapfens (heise.de im August) des weltgrößten Internetknotens De-Cix im inländischen Frankfurt dadurch gelöst, dass es jetzt offiziell rechtens ist. Ist das schlecht oder vor dem Hintergrund, dass inzwischen doch eine islamistischer Massenmord in Deutschland stattfand, nicht ganz?

Übrigens hat derselbe BND gerade auch einen Bundesverwaltungsgerichts-Prozess gegen die Reporter ohne Grenzen gewonnen, in dem es ebenfalls um "strategische Fernmeldeüberwachung" ging (jurablogs.com). Und übrigens enthält die FAZ heute einen ganzseitigen Gastbeitrag "von Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern" unter der Überschrift "Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten", der mit den Worten "Deutschland ist ein weltweit geachtetes und starkes Land. Unser Land ..." beginnt (Online-Zusammenfassung) ...

[+++] Z.B.: Indes vorm Bundesverfassungsgericht wird entschieden, ob ein verurteilter Mörder "seinen Namen aus online verfügbaren 'Spiegel'-Berichten streichen lassen" darf, in denen Gerhard Mauz eigentlich Verständnis für den Täter gezeigt und eine mildere Strafe gefordert, ihn aber halt mit vollem Namen genannt hatte. Über diesen verzwickten Fall, der schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hat und 2012 vorm Bundesgerichtshof 2012 verhandelt wurde, berichtet Christian Rath in der TAZ.

[+++] Z.B.: "Der italienische Ex-Premier Silvio Berlusconi, Eigentümer der TV-Gruppe Mediaset, sucht nach Verbündeten, um sich vor dem als feindlich bewerteten Übernahmeversuch des französischen Medienkonzerns Vivendi zu verteidigen. Dieser hat in wenigen Tagen seinen Anteil an Mediaset von drei auf 29,7 Prozent aufgestockt", berichtet der Standard. Das ist eins der europäischen Medien-Themen, die hierzulande praktisch überhaupt nicht vorkamen (siehe zuletzt ein Altpapierkorb im Dezember, im Zusammenhang mit Brainpool).

"Eigentlich wollten die Unternehmen eine gemeinsame Plattform zum weltweiten Vertrieb von TV-Inhalten schaffen. Italienische Medien hatten von einem 'europäischen Netflix' gesprochen. Doch der Deal ist gescheitert" ...

Netflix interessiert in Deutschland zwar brennend, aber alles mit europäisch davor, das sich nicht schlüssig den Themenfeldern Banken(-rettung) oder Bundesregierungs-Flüchtlingspolitik zuordnen lässt, aktuell nur wenig.


Altpapierkorb

+++ Z.B. "Das irakische Fernsehen verschwieg das Attentat". Es ist tagesschau.de, nämlich Carsten Kühntopp aus dem ARD-Studio Kairo, der da online (in Textform) berichtet, wie der Jahreswechsel im irakischen Fernsehen ablief: "Fröhliche Neujahrsgrüße bei 'Al-Iraqiya': 'Happy New Year, happy New Year'. Im staatlichen irakischen Fernsehen ist die Welt noch in Ordnung. Das Laufband am Bildrand erklärt, wie gut Knoblauch und Rosinen für die Gesundheit sind. Von der neuen Anschlagsserie des IS kein Wort, auch nicht in den Nachrichten. Nichts soll die Kampfmoral derer schwächen, die versuchen, den IS aus Mossul zu vertreiben. Während Abba im Fernsehen ein 'Happy New Year' wünschen, stehen Menschen in Sadr-Stadt, einem Stadtteil von Bagdad, an einer Straßenkreuzung, fassungslos: Nun zündete hier ein Selbstmordattentäter des IS eine Autobombe - mehr als 30 Menschen waren sofort tot ..." Es wäre wahrscheinlich falsch, deswegen Kritik am irakischen Fernsehen zu üben. Aber für das Problem des Setzens und Weglassens von Themen sind sie bei der "Tagesschau" inzwischen sensibilisiert.
+++

+++ Mehr Medienjustiz: Der Tagesspiegel und Jan Böhmermann haben auch vorm Berlin-Brandenburger Oberverwaltungsgericht über das Auswärtige Amt (also die Behörde des mutmaßlich künftigen Bundespräsidenten!) gesiegt (Tagesspiegel). Es geht sozusagen um ehemalige Majestätsbeleidigung. +++

+++ Geschmack zu beweisen gehört nicht zu den Aufgaben von Titanic-Chefredakteuren. Unter der Überschrift "Auch ich war ein Opfer" schreibt Tim Wolff heute im FAZ-Feuilleton über den oder eher: anlässlich des islamistischen Massenmords in der Charlie Hebdo-Redaktion vor zwei Jahren: "Und dann kommt 'Charlie Hebdo' auf die Idee, eine deutsche Ausgabe zu machen und mir auch noch den Arbeitsplatz durch Konkurrenz zu gefährden. Jetzt muss ich wieder Interviews geben und an all den Quatsch denken. Einen Vorteil hat dieses Übertreten von Satiregrenzen aber: Nun können auch deutsche Hysteriker, vom Salafisten bis zum 'Je-suis'-Isten, sich aus erster Hand davon überzeugen, wie unberechtigt und manisch jegliche Aufregung um diese grundfreundliche, redlich bemühte, mit leicht aus der Zeit gefallenen Brachialzeichnungen verzierte Zeitschrift ... war und ist – hoffentlich, denn ich will nicht zu einem guten Satiriker werden müssen, um endlich Ruhe vor dieser Geschichte zu bekommen." +++

+++ Was Fernsehsportsfreunde bewegt: die Handball-WM und ob überhaupt noch Bewegtbilder von ihr übertragen werden, wenn nicht mal das (sich selbst Sport-Netflix nennende) Dazn mitmacht. Markus Ehrenberg berichtet im Tagesspiegel. +++

+++  Die SZ-Medienseite stellt ausführlich den mutmaßlichen Olympia-Sender der nächsten Zeit vor: Eurosport. Siehe auch dwdl.de. +++ Und sie, die SZ, stellt die Frage "Darf man schreiben, dass Donald Trump 'lügt'?" Da geht es um Medien in den USA. Doch für viele deutsche Medien, für die der noch amtierende Präsident die Respektsperson schlechthin ist, ist' s ebenfalls relevant. +++

+++ Am früher oft beschaulichen, im süddeutsch-katholischen Raum oft noch arbeitsfreien Jahreanfang schmeißen ARD und ZDF mit Krimis im irrsinnigen Ausmaß um sich. Gestern (APkorb) ging's um die der ARD. Das ZDF hatte/ hat auch einen Zweiteiler am Start ("Mit größter Präzision richtet im neuen ZDF-Taunuskrimi ... in der titelgebenden Region bei Frankfurt ein Scharfschütze drei Menschen hin", Standard). +++ Indes wieder in der ARD: ein "Küstenkrimi" (Tagesspiegel). +++

+++ Tolinos sind "E-Reader", also elektronische Buch-Lesegeräte, mit denen deutsche Buchhändler und die Deutsche Telekom erfolgreich gegen Amazon konkurrieren, inzwischen auch anderswo in Europa. Und "dieses Tolino-Ökosystem verkauft die Deutsche Telekom nun an den E-Reading-Anbieter Kobo mit Sitz in Toronto, der zum japanischen Amazon-Rivalen Rakuten gehört. ... Zu den Gründen des Verkaufs wollte man sich in Bonn bislang nicht äußern" (gruenderszene.de). Aber dass gute Ideen, die auch noch erfolgreich laufen, und die Deutsche Telekom nicht zusammenpassen, erklärt sich von selbst. +++ 

+++ "Zum ersten Mal begegnete ich Margret Trapmann im August 1975. Hans Abich, der Programmdirektor der ARD, hatte in München zu einem sommerlichen Abend in das Lokal 'Reitschule' am Englischen Garten eingeladen, um Arbeit und Vergnügen zu verbinden. Ich selber hatte kurz vorher die Stelle als Medienredakteur bei der 'Süddeutschen Zeitung' angetreten. Sie, die Presschefin der ARD, sorgte an dem Abend dafür, dass ich in die gar nicht so kleine Gemeinde der Medienjournalisten aufgenommen wurde. Mein erster Eindruck von ihr: ..." Da hat Karl-Otto Saur für die Medienkorrespondenz einen Nachruf auf Margret Trapmann, die in den 1970ern ARD?Pressesprecherin war (und vorher bei der MK-Vorgängerin Funkkorrespondenz gearbeitet hatte), verfasst. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

 

 

weitere Blogs

In einer Kirche hängt links neben dem Altar ein Schild mit der dreisprachigen Aufschrift No pasar - Überholverbot - no passing
In Spanien gibt es ein Überholverbot am Altar.
G*tt ist Körper geworden. Was für eine Gedanke! Birgit Mattausch geht ihm nach.
Heute erscheint der sechste und vorerst letzte Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie. Katharina Payk fragt: Wo kommt Polyamorie im Kontext von Kirche und Pfarrgemeinde vor?