Was macht eigentlich Christoph Lütgert?

Was macht eigentlich Christoph Lütgert?
Welches Thema bringt das Wirtschaftsressort von stern.de dazu, innerhalb von zehneinhalb Stunden acht Artikel rauszuhauen? Außerdem: die vielen, vielen Krimi-Ableger des „Traumschiffs“; die vielen, vielen Schreihälse des Gender-Bashing; Social Bots als Manipulatoren der politischen Debatte; Einschätzungen zur Paralympics-Berichterstattung.

„Sind all die kritischen Filme und Artikel über Carsten Maschmeyer eigentlich schon vergessen?“ lautete eine Frage im Vorspann eines Altpapiers Anfang 2012, und 2013 hätte sie vielleicht auch noch gepasst. Heute kann man diese Frage in dieser Form nicht mehr stellen, denn es scheint eine große Gruppe von Medienrezipienten zu geben, die die Filme - zum Beispiel diesen - weder gesehen noch die Diskussion darum mitbekommen haben, und die auch weder davon gehört haben, dass es Lutz Hachmeisters Dokumentarfilm „Der Hannover-Komplex“ gibt, noch von der Existenz des dazugehörigen Buchs wissen. Kürzer gesagt: Es gibt eine nennenswerte Zahl von TV-Zuschauern, die Maschmeyer nur kennen, weil er Juror in der dritten Staffel der Start-up-Castingshow „Die Höhle der Löwen“ (DHDL, siehe Altpapier) ist. Darauf deutet die Überschrift eines t3n-Artikels hin.

„Die Schattenseiten von DHDL-Star Carsten Maschmeyer“, 

lautet sie. Uiuiui, der „Star“ von Vox, er hat also auch seine dunklen Seiten. Die Frage, inwiefern es überhaupt angemessen ist, einen zumindest in der jüngeren Vergangenheit einflussreichen politischen Strippenzieher wie den einstigen Schröder-Unterstützer und Wulff-Förderer Maschmeyer in die Jury einer Unterhaltungssendung zu setzen (siehe taz Nord neulich; Disclosure: Der Text ist von mir), reißt der Artikel aber nicht einmal an. Und, ach ja, hallo Christoph Lütgert, falls Sie diese Kolumne lesen: Tun Sie doch mal wieder was! Auch wenn Sie jetzt Rentner sind …

t3n, „das Magazin der digitalen Wirtschaft“, geht auch noch an anderer Stelle auf DHDL ein, und zwar in einem Gespräch mit dem FDP-GeneralsekretärBundesvorsitzenden Christian Lindner, dessen Meinung zur Show an Überkandideltheit nichts zu wünschen übrig lässt:

„Ich finde die Sendung super (…) Es wird da ein Bewusstsein für fortschrittliche Technologien und Geschäftsmodelle geschaffen. Es entsteht ein Klima der Anerkennung für Risikobereitschaft und das tut unserem Land insgesamt gut. Ich freue mich über die Einschaltquote von drei Millionen bei der Höhle der Löwen, weil es zeigt, dass sich in unserem Land insgesamt etwas verändert. Dass es nämlich nicht nur Leute gibt, die zulassen wollen, dass Deutschland ein Altersheim und Freilichtmuseum wird, sondern die auch noch was vorhaben hier.“

Ich würde ja lieber in einem Freilicht-Altersheim leben, als von jemanden regiert zu werden, der über seine Wirtschaftskompetenz einiges dadurch verrät, dass er als „Quote“ eine absolute Zahl nennt. Dass Lindner in dem Interview auch noch etwas anderes sagt, sei an dieser Stelle aber nicht verschwiegen. Zum Beispiel auf die Frage nach einer Verschärfung des Leistungsschutzrechts:

„Ich glaube, dass bei vielen der wettbewerbsrechtlichen Themen unser Problem Enforcement, also Durchsetzung, ist – nicht mangelnde Gesetze. Oft fehlt einfach die Kapazität in den Kartellbehörden. Da gibt es nur wenige Experten, die sich mit der Plattform-Ökonomie auskennen, sodass keine Waffengleichheit besteht.“

Zurück zu DHDL: Am Dienstag lief die vierte Folge der aktuellen Staffel, und als Symptom der Überkandideltheit im Zusammenhang mit der Sendung kann man es auch werten, dass die Ausstrahlung für das Wirtschaftsressort (!) von stern.de Anlass war, innerhalb von zehneinhalb Stunden gleich acht sendungsbezogene Artikel in die Welt zu pusten: diesen, diesen, diesen, diesen, diesen, diesen, diesen und diesen, wobei es in den beiden letzteren um einen veganen Brotaufstrich geht, der ein bisschen nach Bier schmeckt.

Wer noch in der Lage ist, sich durch das „für seine journalistische Überkomplexität bekannte“ (Altpapier), von G+J-Halbgott Philipp Jessen verantwortete Portal in tiefste Verzweiflung versetzen zu lassen, hat hier die freie Auswahl. Auch wenn Sie eher Qualitätsmedien zugeneigt sind, können Sie DHDL möglicherweise nicht entkommen, denn aus der Druckausgabe der SZ purzelt heute morgen ein Karstadt-Katalog: „Jetzt bei uns. Der neue Top-Artikel aus der Vox Gründer-Show. Auf Seite 41“ (falsche Rechtschreibung im Original).

[+++] Ausgansgspunkt für die Haupttexte auf den heutigen Medienseiten von SZ und FAZ ist ein Film, der am Donnerstag im Ersten Programm der ARD zu sehen ist. Dann startet die Reihe „Der Kroatien-Krimi“ mit dem Film „Der Teufel von Split“. Katharina Riehl schreibt in der SZ:

„Das Böse lauert überall, aber am besten gefällt es auch dem Bösen natürlich dort, wo es ein bisschen schön ist. In Split zu Beispiel, im Urlaubsland Kroatien, dort wird am kommenden Donnerstag eine Leiche im Hafen gefunden, die unerschrockene Kommissarin Branka Maric wird ermitteln. Oder in Istanbul, wo Kommissar Mehmet Özakin ‚oft an zwei Fronten kämpft‘; oder in Athen, in Bozen, in Tel Aviv, in Zürich oder ‚im malerischen Urbino‘, wo glücklicherweise jeweils ebenfalls ortsansässige Ermittler gewillt sind, das Böse innerhalb von 90 Minuten einer Handschelle zuzuführen.“

Anlass des Textes ist also ein weiteres Beispiel für den seltsamen Trend, in anderen Ländern Deutsch sprechende Kommissare zu ermitteln zu lassen, die es stets mit ebenso perfekt Deutsch sprechenden Protagonisten zu tun bekommen. „Die Donnerstagskrimis der ARD, in denen seit einiger Zeit konzeptmäßig Mordfälle vor touristisch attraktiver Kulisse gelöst werden“, sieht Riehl vor allem als Symptom für die Zurückgebliebenheit der deutschen TV-Fiction.

„Im deutschen Fernsehprogramm, das seinen Tötungsdelikten hin und wieder eine Notoperation untermischt, scheint man statt einer guten Geschichte nur noch einen attraktiven Schauplatz zu brauchen“,

schreibt sie. Abonnenten der SZ-E-Paper-Ausgabe sei übrigens empfohlen, den Text dort (und nicht in der frei online zugänglichen Fassung) zu lesen - und zwar wegen einer herausragend witzigen Bildunterschrift (die in der Druckausgabe leider nur in einer kastrierten Version zu finden ist).

Die „Ermittlungsroutine vor herrlicher Landschaft“ bespöttelt auch Michael Hanfeld in der FAZ, und er kritisiert sogar etwas, was man Kulturimperialismus nennen könnte (er würde das natürlich nicht tun): 

„(Die) öffentlich-rechtlichen Exportkrimis (…) bedienen sich anderer Herren Länder Leute, Kultur, Geschichte und Landschaft, um Geschichten wie von nebenan zu drehen, in denen man sich heimisch fühlt. Sie sind das ‚Traumschiff‘ im Krimiformat (…)“

Dass „Der Kroatien-Krimi“, „Der Urbini-Krimi“ und wie die internationalen Regionalkrimi-Spinoffs alle heißen das „Traumschiff“ mit anderen Mitteln sind, sagt auch Riehl. 

[+++] „Big Data vs. freies Leben: Wie berechenbar sind wir?“ lautet das Titelthema in der neuen Ausgabe des Philosophie Magazins, das am Donnerstag an den Kiosk kommt. Einer der Gesprächspartner ist Ethan Zuckerman, unter anderem bekannt als Erfinder der Pop-up-Werbung. In dem Interview geht es darum, wie „das Internet zu einem gigantischen Überwachungsapparat werden konnte“. Zuckerman sagt (ab Seite 44):

„Nehmen wir mal an, dass Sie morgens die Seite von Spiegel Online aufrufen, um die Nachrichten zu lesen. In diesem Moment wird nicht nur Spiegel Online Cookies in Ihrem Browser platzieren, sondern auch alle Werbepartner der Zeitung. Nach einer Zeitungslektüre von zehn Minuten haben Sie etwa 50 Spione auf Ihrem Rechner, das sind die berüchtigten Drittanbieter-Cookies. Richtungsweisend war in diesem Zusammenhang der Fall Double-Click, der 2001 vor ein US-Bundesgericht kam. Im Urteil hieß es, dass der Einsatz von Drittserver-Cookies keinen Eingriff in die Privatsphäre darstelle. Die Richterin verglich den Einsatz von Cookies mit einem Telefonat unter Freunden, bei dem einer das Gespräch laut stelle, damit andere mithören könnten. Das sei kein illegales Abhören. Dieses Urteil hat zur Entstehung eines riesigen Marktes geführt. Wenn Sie im Netz surfen, geht Ihr Profil automatisch an den Höchstbietenden aller Internetwerber, die Ihnen personalisierte Werbung schicken wollen. Dieses automatisierte Marketing ist heute eine der Haupteinnahmequellen im Internet. Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet die Onlineportale der Zeitungen als wichtigste Datenlieferanten fungieren, indem sie die Werkzeuge für das Webtracking zur Verfügung stellen. So haben wir das Paradox, dass Sie bei Spiegel Online oder beim Guardian alles über die Enthüllungen Edward Snowdens lesen können oder auch leidenschaftliche Anklagen gegen die NSA und deren massive Verletzung unserer Privatsphäre, während Ihr Browser gleichzeitig voller Wanzen ist, die Sie ausspionieren. Vollkommen absurd ist das und eigentlich zum Totlachen.“ 

[+++] Inwieweit Social Bots „in die politische Debatte im Netz eingreifen und sie verfälschen“ (Simon Hegelich, TU München), beschreibt Martin Fuchs in der NZZ:

„In letzter Zeit wurden Chat-Bots beobachtet, die sinnvolle und durchaus längere politische Diskussionen führen können und verschiedene Argumente ausgetauscht haben, ohne dass sich der ‚Besitzer‘ des Bots nur eine Sekunde darum kümmern musste (…) So beobachtete (…) Hegelich unter anderem auf dem Facebook-Account der (...) CSU, wie Social Bots versuchten, Meinungen zu beeinflussen. Unter den Beiträgen der Partei tauchten immer wieder fremdenfeindliche Kommentare auf, die Hegelich ziemlich sicher Social Bots zuordnen konnte. Oft reicht schon ein einziger manipulativer Kommentar aus, um eine Hass-Tirade anderer echter Benutzer auszulösen.“

Es handelt sich hierbei also um ein Thema, das künftig noch mehr Aufmerksamkeit bedarf - und wohl auch besonderer Fähigkeiten, denn ein Politikjournalist, der herausfinden will, wer auf unsichtbare Weise Meinungen und Stimmungen manipuliert, ist ohne einen Technik-Experten an seiner Seite (oder Technik-Kenntnisse, die er sich aneignen muss) womöglich aufgeschmissen.


Altpapierkorb

+++ Das bei den Honorarschindern vieler Leitmedien beliebte Gender-Bashing greift Daniel Hornuff für Deutschlandradio Kultur auf: „Einst ging alle Macht vom Volke aus. Heute geht die Macht von der Geschlechterforschung aus, und Deutschland ächzt unter ihrem Regime. Immerhin verbiete sie den gesunden Menschenverstand und sanktioniere das freie Sprechen. So jedenfalls sieht es eine steigende Zahl blasierter Schreihälse (…) Dabei sind die Schreihälse untereinander völlig uneinig, in welcher Weise die Geschlechterforschung abgewertet werden soll. Einerseits gilt ihnen diese Forschung als gefährlich stark: Man wirft ihr weltanschauliche Zurechtweisungen vor und warnt vor einem volkspädagogischen Umerziehungsprogramm. Andererseits attestiert man ihr einen zeitgeistigen Opportunismus, tadelt sie also für grundsätzliche Wirkungsarmut und Erkenntnisschwäche. Beide Einwände widersprechen sich. Umso mehr zeigen sie, dass hier lediglich Ressentiments unterschiedlicher Couleurs reproduziert werden.“

+++ „Wichtig ist, dass es nicht allgemein die Deutschen sind, die den Medien mit Skepsis begegnen. Vielmehr lässt sich das sinkende Vertrauen auf wenige Gruppen in der Bevölkerung zurückführen (…) Mehr als 82 Prozent der relativ kleinen Gruppe, die sich selbst dem rechten politischen Spektrum zuordnen, misstrauen den Medien. Von einer dramatischen Vertrauenskrise kann auch gar keine Rede sein. In den vergangenen 20 Jahren gab es schon erheblich schlechtere Werte. Schwankungen sind nicht ungewöhnlich. Medienmacher haben also keinen Grund zur Panik.“ Sagt der Medienvertrauensfachmann Kim Otto in einem Interview mit der SZ (siehe auch u.a. den Korb des Altpapiers am vorvergangenen Dienstag).

+++ Die Wikileaks-Informantin Chelsea Manning hat ihren Hungerstreik beendet (AFP/Neues Deutschland, dpa/Reuters/Spiegel Online).

+++ Bahman Nirumand schreibt in der taz über den Entwurf eines neuen iranischen Mediengesetzes: „Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass das Gesetz eine doppelte Kontrolle der Medien vorsieht: eine durch den Staat und eine durch Selbstzensur. Der Vorlage nach müssen Journalisten künftig beim Kulturministerium eine Zulassung für ihren Beruf einholen. Zudem sind sie für jeden Bericht, den sie verfassen, einem Gremium gegenüber verantwortlich, das aus Vertretern des Kulturministeriums, der Justiz, der Geistlichkeit und der Presse besteht.“

+++ Ebenfalls in der taz: Rechtsextremisten stören eine Veranstaltung des RBB-Hörfunkkanals Radio Eins. Darüber informieren auch der Tagesspiegel und der RBB selbst.

+++ Wie berichten die Medien über die Paralympics und vor allem ihre Protagonisten? Darüber schreibt der amerikanische Rolling Stone einen Text, der sich teilweise durchaus auch mit Blick auf die hiesigen Verhältnisse lesen lässt: „The erasure of Paralympians is not just measured in lack of social media enthusiasm and mass media stories. Vogue Brazil decided to promote the games by hiring two models and digitally removing two limbs to make them look like amputees. The caption: ‚We are all Paralympians.‘ We're not, actually, and the real ones could use more attention. Many of them have beautifully sculpted athletic bodies that would do just fine in a major photoshoot (…) At least they could have hired a disabled model. The erasure is literal here. Meanwhile, even when the media does cover the games, it's too easy to fall into tropes about sappy stories of overcoming disabilities. The typical Olympics (in the U.S. media market) loves such inspirational narratives anyway, but when it comes to disability, the tendency to write heartfelt clichéd leads about proving anyone can do anything if they just put their mind to it, no matter the obstacle, can overwhelm. It feeds into longstanding stereotypes. We – and by this I mean Western civilization and its stories in general – tend to talk about disabilities in two ways, as freaks or as angels. Both are dehumanizing, even though the latter is nicer.“ 

+++ Dass Zahlen nicht immer Klarheit schaffen, erläutert Servan Grüninger (NZZ Campus). Es geht um mancherorts verbreitete Terror-Relativierungsstatistiken: „(…) Der Vergleich zwischen Opferzahlen in europäischen und nicht-europäischen Ländern ist nicht hilfreich. Denn zu wissen, wie viele Tote der Terror im Irak gefordert hat, sagt noch nichts darüber aus, wie wir auf eine mögliche Gefahrsituation in der Schweiz reagieren sollen.“

+++ Eine 18-jährige Österreicherin hat ihre Eltern verklagt, weil diese „nach Angaben der Tochter seit 2009“ nachträglich Fotos aus ihrer frühesten Kindheit bei Facebook publiziert haben - ohne das Wissen und später gegen den Willen der Abgebildeten. „Der Prozess soll im November beginnen. Den Eltern droht eine Strafe von 3000 bis 10.000 Euro“, schreibt Die Welt (Nachtrag vom 16.9.: Die Geschichte scheint eine Ente zu sein, siehe Berliner Morgenpost).

+++ Und was sich für Twitter-Nutzer ab Anfang kommender Woche ändert, steht unter anderem bei The Verge und ZDNet.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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