Der Journalismus entwickelt sich weiterhin dynamisch bis rasant. In eine schöne bzw. gute Richtung verläuft die Entwicklung nicht. Neueste Stationen benennt der Inhaber der Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für Praxis des Qualitätsjournalismus, Volker Lilienthal, per Echtzeit-Medium:
###extern|twitter|LilienthalV/status/760816651528994816###
###extern|twitter|LilienthalV/status/760841135161905152###
Beachten Sie beim zweiten Tweet auch die Diskussion darunter ("Erinnert an SA Einschüchterungsmethoden").
Für den Vorfall vom Dienstag, der am gestrigen Mittwoch bekannt wurde, interessiert sich Lilienthal schon deshalb, weil dabei der englische, eigentlich nicht deutschsprachige, nun ja: Journalist Graham W. Phillips, das deutsche Wort "Lügenpresse" ausrief. Zu dem Begriff hat Lilienthal ebenfalls just gestern eine Hamburger Ringvorlesung ab Oktober angekündigt (und auch wenn sich bezweifeln lässt, wie viel frischen Wind Giovanni di Lorenzo, Klaus Brinkbäumer und Jakob Augstein in diese Debatte bringen werden, verdient der Obertitel "Medienkritik als politischer Breitensport" Beachtung).
Was ist passiert? Zwei Männer haben unangemeldet die Redaktion von correctiv.org im Osten von Berlin-Mitte betreten, aggressiv ein Interview begehrt und als sie das nicht bekamen (schon weil der, den sie sprechen wollten, gar nicht da war), geschimpft. Das alles haben sie gefilmt und auf Youtube gestellt. Ihr nicht ganz neunminütiger, offensichtlich kaum geschnittener Film zeigt, dass der Begriff "Einmarsch" die Sache ganz gut trifft. Allerdings folgte der Ausmarsch dann auch wieder schnell, so dass aus Nicht-Journalistensicht kaum etwas anderes passiert ist als erstens ein kurzer Hausfriedensbruch, dessentwegen correctiv.org nun auch Anzeige erstattet hat [Nachtrag um 12.15 Uhr: siehe auch diese lange Tweets-Diskussion...]. Zweitens entfaltet der Einmarsch diffuses Droh-Potenzial, das im deutschen Journalismus bislang selten war oder zumindest selten leibhaftig am Arbeitsplatz erschien.
Bedrohlich wirken Phillips und sein (trotz des Namens) deutscher Sidekick Billy Six, der erheblich weniger lieb guckt als auf seinen (nicht bzw. kaum journalistischen) Webseiten billy-six.de und billys-reisen.de, bereits im von ihnen selbst im Gestus von Presenter-Reportern gefilmten Video. Andererseits zeigt es auch, wie schnell die beiden verschwinden, sobald ein Polizeiauto auftaucht. Und bei correctiv.org haben sie wohl schon manchmal präventiv die Polizei gerufen (vgl. etwa das Altpapier zur Eröffnung der "Weisse Wölfe"-Ausstellung im Februar 2015).
Medienressorts und Medienmedien berichten:
"Am Dienstag sind im Berliner Büro des Recherchenetzwerks Correctiv zwei Männer eingedrungen und haben dort ohne Erlaubnis gefilmt. ... Nach Angaben von Correctiv handelt es sich bei den beiden um den britischen Blogger Graham W. Phillips und um Billy Six, ehemaliger Nahost-Reporter der rechtsextremen Zeitung Junge Freiheit. Beide Männer seien geflohen, als man die Polizei gerufen habe." (TAZ)
Die Junge Freiheit bloß "rechte Wochenzeitung", dafür die Eindringlinge "Krawallmacher" und "Möchtegernreporter" nennt faz.net.
"Mit dem Ruf 'Lügenpresse' sind zwei Männer in die Räume der investigativen Journalistengemeinschaft Correctiv in Berlin gestürmt",
heißt es in der DPA/ BLZ-Meldung, die außer auf Angaben von correctiv.org auch auf solchen der Polizei beruht ("konnte ... keine Straftat feststellen und nahm deshalb keine Ermittlungen auf", so dass Fliehen auch nicht wirklich nötig sondern wohl eher Teil der Performance der Eindringlinge war).
Den "verwirrenden Besuch" (meedia.de) nennt bild.de, um die Verwirrung zu steigern, "pro-russische Attacke", da Phillips vor allem im Zusammenhang des Kriegs in der Ukraine für staatlich russische Auslandsmedien agierte und seinen "Interview"-Wunsch wohl auch wegen correctiv.orgs Recherchen zum Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 hegte.
"Marcus Grill ist Chefredakteur bei 'Correctiv' und war während des ungebetenen Besuchs zugegen. 'Das sind keine Journalisten, das sind Propagandakämpfer', sagt er dem Tagesspiegel",
wobei es correctiv.org selbst war, das den zumindest unter Journalisten noch relativ angesehenen Begriff "Journalisten" in den Diskurs eingespeist hat (auf Twitter, um auf seinen längeren Facebook-Eintrag aufmerksam zu machen, auf dem die meisten Meldungen beruhen).
Eingeschüchtert zu werden gehört wiederum durchaus zum Ethos von Investigativjournalisten, wie der Tagesspiegel-Bericht schon im Vorspann ("... Auch der Tagesspiegel sollte schon eingeschüchtert werden") subtil deutlich macht. Überdies enthält Martin Niewendicks aktualisierter Artikel inzwischen einen abstrusen Nachdreh:
"... Billy Six ist die Aktion im Nachhinein plötzlich sehr peinlich. Er fühlt sich von Phillips hintergangen. Eigentlich habe er sachlich mit Marcus Bensmann über die Recherche reden wollen. Nach dem Abschuss von MH 17 habe Six in der Ukraine mit denselben Leuten gesprochen wie Bensmann, und gänzlich anderes gehört. Der rabiate Besuch tue ihm leid. ... Ihm sei nicht bewusst gewesen, dass Phillips die ganze Zeit über, auch in den Redaktionsräumen, gefilmt habe. Er wisse, dass dies ohne Genehmigung unzulässig sei."
Das könnte damit zu tun haben, dass sich auch "die Redaktion der 'Jungen Freiheit' ... von der Aktion, von der sie nicht gewusst habe", distanzierte, wie es im faz.net-Bericht heißt. Erst recht distanziert sich, mit aussagekräftigem Getöse ("Das Protokoll eines Sommerloch-Großereignisses" , "Ungeheuerliches"), RT Deutsch von den beiden "frei arbeitenden Medienmachern/ Aktivisten". Von Phillips habe RT bloß früher mal "einzelne Rohaufnahmen" "bezogen". Bzw.: Welche Verbindungen der Brite zu RT hatte oder hat, ist umstritten wie das meiste andere in der Sache.
Zwischenfazit: Ein "Großereignis" ist die Sache allenfalls psychologisch insofern, als dass diffuse Bedrohungen, die bislang digital auf Displays erschienen, plötzlich leibhaftig vorm Schreibtisch ausgestoßen werden. Aufschlussreich ist sie auf vielen Ebenen: etwa, weil sie sehr gut dokumentiert ist und von beiden (oder noch mehr) Seiten sofort unterschiedlich interpretiert wurde und wird.
Überdies wird die Diffusion deutlich, die den Journalismus umgibt: Phillips und Six Journalisten zu nennen, ist ebenso möglich wie gleichgültig. Was die Journalisten von correctiv.org machen, ist an klassische Medienstrukturen gewöhnten Lesern auch nicht ganz leicht zu erklären (vgl. oben zitierte DPA-Meldung). Crowdfunding, wodurch sie sich u.a. finanzieren, betreibt Phillips ebenfalls. Journalisten agieren oft performativ vor Kameras aller Art, auch versteckten, und/ oder sind als "frei arbeitende Medienmacher" froh, Material verkaufen zu können (und/ oder, es reichweitenstark präsentieren zu können). Sich von solchen Medienmachern ggf. distanzieren zu können, fällt Käufern selten schwer.
Um noch mal Volker Lilienthal aus der Ringvorlesungs-Ankündigung zu zitieren:
"Um die Akzeptanz von Journalismus als Institution gesellschaftlicher Selbstreflexion, als Frühwarnsystem, als kritische Instanz einer freien Gesellschaft zu retten",
wird es allmählich Zeit.
[+++] Klingt nur ähnlich, ist aber was anderes:
"Rechtsextreme dringen ein in die Räume einer Stiftung, die sich seit Jahren für Zivilgesellschaft und demokratische Kultur einsetzt: Das hatte eine neue Qualität".
Da berichtet Matthias Meisner im Tagesspiegel über die Auseinandersetzungen um die Amadeu-Antonio-Stiftungs-Broschüre "Hetze gegen Flüchtlinge in sozialen Medien", die im Altpapier (z.B. diesem) auch schon öfter Thema waren.
[+++] Überhaupt erinnert vieles an vieles. Um noch mal aus dem verlinkten faz.net-Artikel zu zitieren: "Der Fall erinnert an das Vorgehen gegen den Fernsehjournalisten Hajo Seppelt ..."
Diesen inzwischen international bekannten Doping-Enthüller der ARD, der tatsächlich ja Interview-Erfahrungen mit unmittelbarer für russische Staatsmedien arbeitenden Medienmachern hat, porträtiert aktuell wiederum der Tagesspiegel. Markus Ehrenberg fiel dabei auf, wie lauwarm die ARD, die ihre Fußball-Experten und deren Honorare bekanntlich vehement verteidigt, sich über Seppelt äußert:
"Bei Olympia werde Hajo Seppelt als freier Mitarbeiter vom NDR beschäftigt, sagte eine WDR-Sprecherin dem Tagesspiegel. Grundsätzlich sei Seppelt durch die neuesten Enthüllungen als ARD-Doping-Experte in Deutschland und mittlerweile auch international hoch geschätzt und arbeite unverändert als freier Mitarbeiter für den WDR. 'Derzeit prüfen wir, wie wir das deutlich gewachsene Informationsbedürfnis unseres Publikums erfüllen und die Erfolge der ARD in der Doping-Berichterstattung fortschreiben können.' Wie eine unverbrüchliche Treueerklärung klingt das nicht."
Artikel-Anlass: die Olympischen Sommerspiele, die gerade begannen oder in Kürze beginnen. Mehr davon im ...
+++ "300 Stunden Live-Fernsehen, 1000 Stunden Live- Stream", stehen bevor (schon wieder Tsp.). Doch "Rio muss ein Endpunkt im Mehr-ist-geil-Wettbewerb sein. Es existiert kein öffentlich-rechtlicher Olympia-Auftrag", meint Joachim Huber. +++ Wobei Rio ja ohnhehin "etwas von einer Abschiedstournee haben" wird, "verbunden mit dem Ehrgeiz, noch einmal allen zu beweisen, wie hoch man die Latte über all die Jahre hinweg bei den Olympischen Spielen legte" (dwdl.de mit Blick darauf, dass die nächsten Spiele der Rechtekäufer Discovery in Deutschland vielleicht selber wird ausstrahlen müssen; vgl. Altpapier gestern). +++
+++ Zu den Fußballexperten-Honoraren äußert sich per Gastbeitrag auf der "Staat und Recht"-Seite im Politikressort der FAZ der Freiburge Jura-Professor und baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof-Richter Friedrich Schoch (auch Schöpfer des Begriffs "Semmelpfennige" für knappe Rundfunkbeitrags-Senkungen; vgl. Altpapier): "Auffallend ist die strukturelle Asymmetrie, derer sich die Rundfunkanstalten bedienen: Bei den Einnahmen gerieren sie sich als Hoheitsträger und treiben die Zwangsabgabe bei säumigen Beitragsschuldnern notfalls mit Zwangsmitteln ein; bei den Ausgaben wollen sich ARD und ZDF wie Privatsender verhalten und durch Vertraulichkeitsvereinbarungen Transparenzpflichten gegenüber den Beitragszahlern abstreifen. So einfach geht es jedoch nicht". +++
+++ Noch'n FAZ-Gastbeitrag: Rolf Schwartmann, Leiter der Forschungsstelle für Medienrecht an der TH Köln, aus Terrorismusbekämpfungsgründen wider die Abschaffung der Störerhaftung. +++
+++ "Olympische Spiele zum Beispiel waren immer Sternstunden der Anstalt", werden es aber in 2020ern nicht mehr sein: Da berichtet Peter Nonnenmacher (Frankfurter Rundschau) über die Lage der BBC unter Theresa May und der Medienministerin und "gelernten Buchhalterin" Karen Bradley. +++
+++ Gruselige Beispiele für Journalismus mit Emojis via Whatsapp zeigt Altpapier-Autorin Juliane Wiedemeier bei uebermedien.de. +++
+++ "Es gibt etwa die Fotografie von Dorothea Lange mit dem Titel 'Migrant Mother', ein legendäres Bild aus dem Jahr 1936, das eine sorgenvolle Migrantin mit ihren Kindern zeigt. Würde die Süddeutsche Zeitung das Foto in der Printausgabe drucken und einen Monat auf der deutschen Nachrichtenseite zeigen wollen, dann müsste sie Getty Images 1025 Dollar zahlen. Würde sie es bei der Kongressbibliothek herunterladen, könnte sie es kostenlos und ohne Restriktionen verwenden": Um ungefähr diese Absonderlichkeit des US-amerikanischen Urheberrechts, die wegen der Marktbedeutung von Unternehmen wie Getty global ausstrahlt, kreist der Aufmacher der SZ-Medienseite. +++
+++ Der Springer-Konzern geht dialektisch mit Adblockern um, bekämpft sie, investiert aber auch in sie (golem.de). +++
+++ Die golem.de-Überschrift "Mit Google Maps die interessanten Ecken finden" hält Adrian Lobe auf der FAZ-Medienseite für missglückt, denn "es drängt sich der Verdacht auf, dass Google seine Nutzer 'nudgen', also ihnen einen Schubs geben und zu Geschäften lotsen will, die für ihre digitale Präsenz bezahlen. Es ist im Grunde eine Umwertung von Sehenswürdigkeiten: Sehenswert ist nicht mehr, was Kultur und Geschichte repräsentiert, sondern was Geld bringt". +++
+++ Ferner auf der FAZ-Medienseite: die Einkommen der italienischen RAI-Chefetage (die die "Höchstgrenze von Einkommen im öffentlich-rechtlichen Sektor und bei staatlichen Unternehmen" übertreffen). +++ Und Ursula Scheer empfiehlt, das Finale der Serie "Downton Abbey" "auf einen Rutsch per DVD" zu sehen. +++
+++ "Gegen Mittag, just während dieses Tagebuch geschrieben wird, erfahre ich, dass Ausreiseverbote gegen weitere 1297 Personen verhängt worden sind ..." (Yavuz Baydars "Türkisches Tagebuch" im SZ-Feuilleton) +++ Can Dündar kolumniert nun wöchentlich im Zeit-Feuilleton. +++
+++ Wie das Bundespresseamt das erwähnte RT Deutsch beobachtet (und dabei womöglich auf einen Aprilscherz hereinfiel), berichtet Hans-Martin Tillack im Stern. +++
+++ "Jede Nation lebt in ihrer Kultur, ihrer Tradition, ihrer Geschichte. Wir haben keine transeuropäischen Medien, keine gemeinsame Literatur. Jedes Land kennt die amerikanischen Filme besser als die der Nachbarn in der EU ..." (Arno Luik, Stern-Autor, aber "auf der Ostalb geboren", in der Kontext-Wochenzeitung im Rahmen des großen Essays "Die Totengräber Europas"). +++
+++ Dann noch auf der SZ-Medienseite: Patricia Görgs Hörspiel "Es bleibt spannend" (Sonntag bei NDR Info). +++ Und Infos zur Generaldirektor-, also quasi Intendanten-Wahl beim ORF, wo noch immer ein roter und ein schwarzer Kandidat zur Wahl stehen, als hätte sich Österreichs Parteienlandschaft nicht sehr verändert. +++
+++ Und "das Jahrbuch Fernsehen erscheint am 28. Juli 2016 zum 25. Mal. Die erste, 1991 publizierte Ausgabe, war noch schwarzweiß und ohne Bebilderung", aber der Medienwandel schreitet eben überall unaufhaltsam voran. "Seitdem wurde die Zukunft des Fernsehens von den Auguren mal als 'interaktiv' beschrieben, mal wurde es ganz totgesagt" (hier nebenan). +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.
+++