Das erste Top-Ereignis des Jahres in Deutschland war unerwartet und lief gleich während der ersten Minuten. Aus vielen Gründen, u.a., weil die ersten drei Tage des Jahres für viele langes Wochenende waren, verbreitete es sich medial erst ab dem vierten Tag, dann aber richtig. Vermutlich gerade wegen der so langsamen wie gewaltigen Verbreitung nahm und nimmt das Spiel, in dem jeder seine Rolle spielt (Altpapier gestern), die auch jeder andere von ihm erwartet, seinen Lauf. Und die Bild-Zeitung verkauft "Das geheime Polizei-Protokoll!" aus Köln in ihrem kostenpflichtigen Bereich.
Die "Ereignisse in Köln", wie Sascha Lobo bei SPON lieber doch nicht schreiben würde, weniger weil ähnliche in geringerem Umfang auch noch "in Stuttgart und Hamburg" (SZ, S. 3) sowie in Düsseldorf (wie der Kölner WDR nachreicht) stattfanden, sondern weil der Begriff Ereignisse "so passiv wirkt, so schicksalhaft", haben vermutlich bei kaum jemanden außer vielleicht einigen Betroffenen die grundsätzliche Überzeugungen verändert. Aber sie haben eine Menge vorhandene Meinungen verstärkt. Alle fordern mit erheblich gesteigerter Verve und ungefähr gleichbleibender Überzeugungskraft, was sie 2015 auch forderten. Digitale "Ad-hoc-Gesellschaftsdiagnosen", wie Hilal Sezgin sie in einer weiteren, durchaus guten (zeit.de) nennt, sind schließlich längst in Near-by-Echtzeit aufnahmefähig auch für eher Unerwartetes.
Das Spiel zeigt also vor allem, wie die Polarisierung im bislang vergleichsweise wenig polarisierten Deutschland zunahm und vermutlich weiter zunehmen wird.
"Die Empörung sucht sich ihre Fakten", formulierte es dann der wohl nicht mehr bloggende Christoph Kappes bei Facebook (und bevor ihm "jemand zu früh recht gibt": Klickt man in der nicht unkompliziert strukturierten, aber ja nicht als Nachrichtenmedium gedachten Facebook-Timeline auf "Vorherige Kommentare anzeigen", zeigen sich insgesamt drei Einträge; "die Instrumentalisierung durch die feministische Szene ..." zählt ebenso wie Heribert Prantls spezieller Zugang auch zu Kappes' Kritikpunkten).
Natürlich wurde "Rape Culture ... nicht nach Deutschland importiert - sie war schon immer da", wie Anne Wizorek, Initiatorin des wieder viel zitierten #aufschrei, mit Co-Autorin Stefanie Lohaus betont (vice.com). Ähnlich natürlich ließen und lassen sich aus Köln und vielen anderen Städten Geschehnisse berichten wie:
"Vor kurzer Zeit wurde am Kölner Rheinufer, wo die Touristen flanieren, ein Fotograf des 'Kölner Stadt-Anzeiger' von den dort seit langem notorischen Drogenhändlern überfallen und seiner Ausrüstung beraubt. Er versuchte, einen der Angreifer zu stellen. Ohne Erfolg. 'Gut so' sagte hernach die Polizei. 'Die stechen schnell mit dem Messer zu.'"
Der Chefredakteur dieses Stadt-Anzeigers, Peter Pauls, erwähnte das in seinem ebenfalls lesenwerten gestrigen Kommentar zur "unwürdigen Informationspolitik der Kölner Polizei" am Rande. Welches der beklagenswerten Phänomene in den Medien mehr beachtet werden müsste, liegt im Auge des Betrachters und hängt oft mit individuellen Erfahrungen zusammen. Darüber zu sprechen oder zu streiten, ist Pluralismus. Und das zählt zum Positiven der Sache aus Medien-Sicht: Es wird zumindest in den Medien oft angemessen, auf ordentlichem Niveau und mit sinnvollem Fokus diskutiert.
"Es geht um jene Menschen, die mehr oder weniger guten Willens sind, um jene, die mit ihrer Hilfe dem Staat schon seit Monaten aus der Patsche helfen, um jene, die Merkels Politik für richtig halten oder zumindest tolerieren oder sogar nur hinnehmen – und jene, die abends während der Fernsehnachrichten einfach nur murmeln: 'Wenn das man gut geht'",
schreibt etwa Nico Fried im SZ-Leitartikel heute. Das ist nur ein Beispiel unter vielen, ein unspektakuläres (un-prantliges). Die SZ hat ihre Seite 3 zum Thema und sonst noch einiges, wie viele andere Medien auch.
"Weil nahezu alle großen Zeitungen und Sender zunächst einmal recherchieren wollten statt meinen und nur knappste Meldungen brachten, kam schnell der falsche Vorwurf auf, hier würden aus politischen Gründen Nachrichten unterdrückt",
formulierte gestern früh schon mal der Berliner Tagesspiegel-Chefredakatur Lorenz Maroldt in seinem Newsletter. Sollten Zeitungen und Sender seit Jahresbeginn tatsächlich solange "nur knappste Meldungen" bringen (und diese auch in ihren 24/7-Internetauftritten nicht prominent platzieren), bis sie selbst recherchiert haben, wäre das ein Paradigmenwechsel, der zwar in allen Das-ändert-sich-2016-Übersichten, mit denen die Internetauftritte im Dezember langweilten, gefehlt hat, aber uneingeschränkt begrüßenswert wäre. (Und die von Maroldt anschließend lobend zitierte Reaktion der B.Z., also des wüstesten Springer-Boulevardblatts, gibt's hier etwa bei Twitter zu sehen und hier bei horizont.net speziell gewürdigt).
[+++] Und auch der ksta.de-Beitrag "Henriette Reker im Shitstorm der Ignoranten" ist lesenswert. So doof-gutgemeint der #Armlaenge-Ratschlag der Kölner Oberbürgermeisterin sein mag (wobei die Faustregel, dass Aussagen selten soo doof sind, wie sie in verkürzten Online-Meldungen erscheinen, auch dafür gilt): Es würde keinem Scherzkeks schaden, sich zu erinnern, wodurch Henriette Reker noch mal überregional bekannt geworden war. Zumindest Online-Medien, die sie dem sog. Netz zum Fraß vorwerfen wollen und ein Zeilchen mehr schon noch unterbringen könnten (wie SPON, Maroldt aber auch), könnten kurz ans wohl erste rechtsradikale deutsche Politiker-Attentat des Jahrzehnts erinnern, das Reker ja nur zufällig überlebte.
Doch so differenziert und vielfältig das gegenwärtige Internet einerseits ist, so "erbarmungslos, erinnerungslos" (ksta.de) ist es andererseits; und vielleicht ist auch Jan Böhmermann doch nur ein Olli Welke und wird in zehn Jahren mit Mario Götze am Spielfeldrand Red Bull Leipzigs Champions League-Spiele kommentieren ...
[+++] Privatwirtschaftlichen Medien gehen also so oder so mit den Ereignissen um. Im Detail ließe sich über vieles streiten und wird auch gestritten (Übersicht im Tagesspiegel unter besonderer Berücksichtigung von CSU-Persönlichkeiten). Vorwürfe einer generellen "Gleichschaltung" bleiben absurd, und dass ausgerechnet meedia.de den "Fehler im System" identifiziert, ist auch unwahrscheinlich.
Im Allgemeinen braucht niemand aus Agenturmaterial zusammenmontierte Umfrage-Übersichten lesen, die etwa mit einer Aussage des früheren Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich beginnen, aber diese Tsp.-Übersicht ist durchaus instruktiv. Z.B. hat eine zwar zahnlose, aber in Medienmedien (zumindest, wenn sie die Bild-Zeitung rügt) oft viel beachtete Instanz bereits gesprochen. Bzw. hat der EPD (siehe also auch hier nebenan) beim Deutschen Presserat angefragt.
"Im Fall der massenhaften Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht sei die Nennung des Migrationshintergrundes 'noch akzeptabel', sagte die Referentin für Beschwerdeführung beim Deutschen Presserat, Edda Eick, am Mittwoch .... Es handele sich um ein Massenverbrechen, das in dieser Dimension so noch nicht stattgefunden habe"
Womöglich ist da irgendwo ein "mutmaßlich" durchgerutscht, das gelernt in solchen Zusammenhängen ja erst mal dazu gehört. Aber vermutlich hätte sich die Referentin gefreut, wenn irgendein redaktionelles Medium die von der TAZ zwar unter Bezug auf eben diesen Presserat erwogene, aber doch nicht verwirklichte Idee, auch im Fall der Kölner Ereignisse "die Nationalität oder Herkunft von mutmaßlichen Straftätern nicht zu nennen", durchgezogen hätte. Die Reaktionen wären interessant gewesen.
Was den CSU-Zugang angeht, haben übrigens die Klickfüchse von SPON den spektakuläreren Spin gefunden ("CSU entdeckt die Lügenpresse").
Und interessant ist natürlich, was die von fast allen finanzierten, unter laufend zunehmendem Rechtfertigungsdruck stehenden öffentlich-rechtlichen Medien so sendeten und sagen. "Der WDR hat nach eigenem Dafürhalten nichts falsch gemacht", leitet Michael Hanfeld seinen diesbezüglichen, für seine Verhältnisse zurückhaltende FAZ-Medienseiten-Artikel ein. Aber das ZDF hat, nach brutalstmöglicher Facebook-Selbstkritik seines stellvertretenden Chefredakteurs Elmar Theveßen. (Und was sagen blog.tagesschau.de und Dr. Kai Gniffke? In diesem Jahr bisher noch nichts).
Dieses ZDF, das zwischen den Jahren traditionell noch mehr auf Kreuzfahrt-Eskapismus gepolt ist als sonst, besitzt außerdem ein teures Nachrichten-Aushängeschild, das sich sehr gerne sowohl sehr grundsätzlich als auch ziemlich schlicht äußert (und oft so, als stünde es weiterhin rätselnd vor dem jungen Internet). Daher muss an dieser Stelle daher noch erwähnt werden, dass Claus Kleber Ende 2015 (hier, bei Min. 14.15) in einer seiner Moderationen "Fremdenfeinde, Nationalisten und Zweifler" in einen Zusammenhang brachte.
Ich persönlich würde erheblich mehr Sascha-Lobo- als Jan-Fleischhauer-SPON-Kolumnen unterschreiben, auch die oben verlinkte, die schöne Lanzen für die Differenzierung bricht, aber Fleischhauers Satz
"Ich hielt 'Zweifler' bislang für eine neutrale Bezeichnung, die einen als Journalisten eher schmückt",
würde ich sofort unterschreiben.
Zum Kontext jenes "heute-journals" vom 30. Dezember gehört übrigens, dass es ziemlich spät am Abend, nach der überlangen "Otto - Geboren um zu blödeln"-Show gezeigt worden sein muss, die das ZDF wegen der islamistischen Attentate in Paris aus dem November verschoben hatte.
+++ Heute in der FAZ auf S.5: eine Eigenanzeige, in der die Frankfurter Allgemeine "10 mal 2 Karten für Kerners Kochshow am 29. Januar 2016 in der Festhalle Frankfurt inlusive Meet & greet mit den Starköchen!" verlost. ""Erleben Sie einen einzigartigen Abend mit humorvollen Anekdoten und ..." wem die FAZ bisher noch nicht leid tat, der sollte das noch mal überdenken. +++
+++ "Wäre der Anlass nicht so traurig, wäre es die beste aller Nachrichten: Auch die taz erscheint heute als Sonderausgabe mit zwölf Seiten über Humor und Satire – und vor allem nur mit Karikaturen statt Fotos. Endlich einmal rückt das kleine Subgenre der komischen Zeichnung vom Rand des Journalismus in den Mittelpunkt", heißt es auf der Titelseite der Charlie Hebdo-TAZ. +++ Der neue Redaktionssitz der vor einem Jahr mörderisch überfallenen Zeitschrift ist "fast 400 Quadratmeter groß", gleiche aber "einem Hochsicherheitsgefängnis, einem Bunker über Tage", berichtet darin Harriet Wolff. +++
+++ Ein Interview mit Charlie Hebdo-Chefredakteur Gérard Biard bringt die FAZ-Medienseite. Es wurde von Bertrand Pecquerie vom Global Editors Network geführt und aus dem Englischen (und warhscheintlich zuvor aus dem Französischen) übersetzt, ist aber ebenfalls lesenswert ("Würden Sie von einem islamischen Faschismus reden?" - "Da ich italienischer Abstammung bin, würde ich den Begriff 'Faschismus' nicht gern verwenden, da er sich zu sehr auf einen spezifischen historischen Kontext bezieht. 'Totalitarismus' scheint mir passender zu sein, dieser Begriff umfasst viel mehr als den Stalinismus und den Faschismus des vergangenen Jahrhunderts. Leider haben wir es im einundzwanzigsten Jahrhundert mit neuen Formen von Totalitarismus zu tun ..."). +++
+++ Klicken Sie natürlich auch zu charliehebdo.fr. +++
+++ Ferner in der FAZ: die Meldung, dass wegen des bereits alten, aber unbeachteten Leistungsschutzrechts die VG Media nun gerichtlich gegen Google klagt (frei online und ausführlicher bei golem.de). +++
+++ Für die SZ hat sich Joseph Hanimann im Feuilleton mit Streit unter Charlie Hebdo-Veteranen befasst. Manche sehen die "Frechheit des Zweifelns aus dem ursprünglichen Charlie" schwinden. +++
+++ Auf der SZ-Medienseite lobt Holger Gertz Olli Dittrichs neue Sendung "Der Sandro-Report – Zahlemann Live", die die ARD heute um 22.45 Uhr zeigt ("Der Komödiant Dittrich ist unabhängig und bewundert genug, um sich im Fernsehen seine eigene Nebenwelt schaffen zu können, seine Figuren können immer wieder auftreten, sie überleben, und jetzt hat man also Gelegenheit, dem wasserhundartig frisierten Zahlemann dabei zuzusehen, wie er sein Format präsentiert"). Frei online steht die Tsp.-Besprechung. +++ Und die Meldung von neuem Unfug rund um die vom NDR betreute Schlager-Grand-Prix-Vorentscheidung findet sich beim Tsp.. +++
+++ Twitter ist überschätzt und dürfte mit seinem Plan, pro Tweet mehr als 140 Zeichen zu gestatten, einen weiteren Fehler machen. Ein "weiteres Indiz dafür ..., wie sehr soziale Netzwerke künftig zu Kanälen werden, auf denen sich originärer Journalismus abspielt", ist der Plan aber auch, meint Christian Jakubetz bei kress.de. +++
+++ "Der Journalist stritt nicht nur mit Vertretern des Rechtsextremismus, auch im Lager der radikalen Linken hatte er zahlreiche Gegner", jetzt ist Wolfgang Purtscheller gestorben, berichtet der ebenfalls österreichische Standard. +++
+++ Falls Sie am Montag "Das Programm" in der ARD gesehen haben: Das im Dezember hier erwähnte, siebenseitige epd medien-Interview mit dem Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt ("Das ZDF macht fast nichts anderes mehr als Krimi. Was sehr traurig ist, weil da seit Jahren eine Genre-Vernichtung läuft, die ich sehr bedauerlich finde") steht inzwischen online. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.